: Nebenzimmer, Nachbarhäuser
David Lynch amüsiert sich mit seiner neuen DV-Kamera und seiner alten Freundin Laura Dern: Herausgekommen ist dabei der gezielt zerzauste Dreistünder „Inland Empire“, in dem man Momente einer Frank-Castorf-Inszenierung zu entdecken glaubt
VON DIEDRICH DIEDERICHSEN
Zum Glück ist „Inland Empire“ in seiner fast dreistündigen Monumentalität auf DV gedreht. Zum Glück. Man stelle sich vor, die aberdutzende von dunklen Gängen, plötzlich aufblitzenden Lichtexplosionen, die immer wieder desorientiert „Wo bin ich hier?“ mit ihren Blicken sagende Laura Dern, die nicht enden wollenden Varianten von „unheimlichen“ Art-déco-Zimmern, Hütten, Kellern, Motel-Rooms und die populär-psychedelischen, immer wieder eingesetzten hypernahen Blicke auf grotesk verzerrte Gesichter, ihren Schweiß, ihre Porenkrater und Nasenabsonderlichkeiten, ihre tot-weirden Blicke – man stelle sich vor, all das wäre auskomponiert und wohl ausgeleuchtet auf vollständige und stabile Kinobilder gebannt worden. Ein unerträglicher Overkill an Ambition und Prätention, selbst für Lynch’sche Verhältnisse, bemerkenswert bescheuert wär’s geworden.
So ist alles aber ein bisschen anders. Die Laune hebt sich zumindest in der ersten Stunde bei jedem Selbstzitat und erst recht bei jedem Lynchismus, da es scheint, als würde der Künstler mit den ruppigen, nie fertigen, oberkörnigen Bildern sagen wollen: „Hallo, ich bin’s, ich kann halt nicht anders, nehmt’s nicht so ernst. Ich muss halt immer diese komischen Zimmer einrichten, bei denen irgendwas hinter der Wand ist.“ Ja, schon gut, amüsier dich nur weiter mit deiner neuen DV-Kamera und deiner alten Freundin Laura Dern! Natürlich schwillt in jeder zweiten Szene der wohlbekannte Ambient-Industrial-Soundtrack, der ihn seit „Eraserhead“ nicht verlassen hat, „bedrohlich“ an und nutzt die im Gegensatz zu den Bildern eher stabil überwältigungsästhetisch geeigneten Techniken des Sounds. Aber auch da nickt man milde und freut sich an der donnernden Dichte, mit der es immer noch aus den Wänden und Nebenzimmern brummt und summt.
Noch etwas ist anders: Seine Länge verdankt „Inland Empire“ weniger den vielen Selbstzitaten und den ständig wiederholten Ansichten weird abgespaceter Räume, sondern eher langen, improvisierten Monologen und Szenen zwischen den Schauspielern. Im Zentrum steht eine Selbsterklärung eines der verschiedenen Laura-Dern-Charaktere in einem „osteuropäischen“ – es gibt einige Hinweise, dass es sich um Polen handeln soll – Polizei- oder Privatdetektiv-Setting. Darin hat sie sich offensichtlich vorgenommen, mit einem Südstaaten-Akzent zu reden und ein toughes Honky-Tonk-Girl darzustellen, zugleich aber erfindet sie erkennbar Geschichten aus dem Leben dieses Girls, offensichtlich mit dem Ziel, möglichst irre abzuschweifen. Während sie erfindet, vergisst sie aber ihren Akzent und redet wieder kalifornisches Hochamerikanisch. Dieser Performance sieht man gerne zu.
Später Frank Castorf
Und solche Momente eines locker ausufernden Actings gibt es einige. Überhaupt wirkt „Inland Empire“ in mancher Hinsicht nicht nur wie ein Lynch-Film, sondern wie alles mögliche andere: zum Beispiel wie eine späte Frank-Castorf-Inszenierung. Der Mut zum repetitiven Nervensägen, das schließlich – mit Glück – als Misstrauen gegen die eigenen Stilmittel rüberkommt, gehört dazu. Dann plötzlich: schicke Mädchen, die singen und tanzen. Das geht immer. Oder der Film wirkt wie eine in eine Geisterbahn geratene Episode von „Curb Your Enthusiasm“ – die durchimprovisierte HBO-Comedy-Serie von „Seinfeld“-Autor Larry David über das Leben im Herzen der Kulturindustrie. Auch Lynch liebt diese von der Ununterscheidbarkeit von Rolle und Person zerfressenen Psychologien. An Castorf erinnern dann wieder nicht nur die zirkulären, sich hochschaukelnden Leere-Performances, sondern auch das gezielte Zerzausen aller Handlungsfäden, die aber trotzdem, ganz anders, als die Kritiker behaupten, keineswegs auf pure Sinnlosigkeit hinauslaufen, sondern meist auf gezielte Verrätselung oft sehr sinnvollen Sinns, teilweise geradezu ideologisch sinnvollen Sinns.
Den Sinn stiftet am Anfang, im ersten Drittel, eine noch einigermaßen straight erzählte Geschichte von Dreharbeiten. Der zu drehende Film aber ist ein Remake eines anderen unvollendeten Films, bei dessen Dreharbeiten etwas Schreckliches passiert sei. Angedeutet wird, dass die Darsteller miteinander eine Affäre hatten, dafür vom eifersüchtigen Ehemann der Darstellerin ermordet wurden und dies nun wieder geschehen werde. Ein recht hübscher Einfall, dass ein altes Drehbuch wie eines der alten Häuser sein soll, in denen der Wiederholungszwang spukt. Vom Drehbuch als Spukschloss verlagert sich der Fokus aber dann auf die Hauptdarstellerin, die frühere Rollen und die Wirklichkeit als weitere Rolle nicht vergessen kann, sodass sie ständig simultan – als verschiedene Räume natürlich – nebeneinander existieren.
In dieser zweiten, ganz auf die Co-Produzentin Laura Dern zugeschnittenen Phase werden nun reichlich Nebengeschichten eröffnet, und das heißt: Nebenzimmer und Nachbarhäuser. Die dabei zur Anwendung kommenden Stilmittel der Unterbrechung und Diskontinuität grenzen vielfach an Selbstparodie, und oft erscheint es, als wäre gerade das egal. Man kann nicht fassen, dass die Fan-Gemeinde diesen Film immer noch als „deeply disturbing“ und „eerie“ ernst nimmt und artikulierte Erwachsene in Internetforen wirklich erschrocken von den Albträumen berichten, die „Inland Empire“ bei ihnen verursacht habe.
Dabei ist das vermeintlich existenziell Erschreckende von einem lakonischen Einverstandensein mit der kompletten Lächerlichkeit dieser Idee nicht mehr zu unterscheiden. Wenn eine „unheimliche“ Frau ein „unheimliches“ Zimmer betritt und dort – natürlich – auf Laura Dern trifft und, Castorf-mäßig, zweimal wiederholt und in einem von schauspielerischen „Ideen“ durchsetzten Ton nach dem Mann fragt, der dort wohnt, und von einer Rechnung spricht, die beglichen werden müsste, kann man noch glauben, davon gruslig gestimmt zu werden. Spätestens als nach einer Pause die unheimliche Besucherin ein drittes Mal anhebt, diesmal aber nach dem Nachbarn fragt, ist es nur noch lustig. Leider auch nicht über alle Maßen lustig.
Hippie-Paranoia
Der ansonsten durch polnische Städte im Winter, amerikanische Trailer-Camps und alte Lichtspielhäuser mäandernde Fluss der Diskontinuität birgt trotzdem noch zwei durchaus ausgeführte Themen. Zum einen wäre da die alte Hollywood-spezifische Mischung aus Vulgärpsychoanalyse und Hippie-Paranoia, wie sie tief in die lokalen Glaubenssysteme wie Scientology oder die von David Lynch persönlich bevorzugte transzendentale Meditation hineintradiert ist. Menschen als Opfer von Programmierungen durch ältere Schichten und Skripte erscheinen in großer Zahl. Und der Hollywood-Glaube in seiner speziellen Legierung aus Mystik und Pragmatismus reagiert nicht mehr paranoisch-kritisch, sondern bietet falsch programmierten Seelen lieber andere und neue Programmierungen als Hilfsmittel an, kein Durcharbeiten mehr, keine deprogrammierende Befreiung. Deswegen steht die Dern immer wieder in einem neuen Skript und Programm vor uns und fragt sich, wie sie dahingekommen ist. Natürlich wimmelt der Film von Hypnotiseuren, Bildschirmen, Leinwänden und Spiegeln.
Zum anderen aber wird hier die „Schauspielerin als Frau“ und die „Frau als Schauspielerin“ fast schon strindbergmäßig durchdekliniert. Kann man ihr glauben? Kann sie spielen, ohne zu sein? Kann sie sein, ohne zu spielen? Das Weib? Als Laura Dern schließlich am Ende wieder in dem Film von Anfang landet und als Hure auf dem Hollywood-Boulevard ermordet wird, spuckt sie Blut auf den Stern mit dem Namen Dorothy Lamour. Die war berühmt dafür, dass sie es aus moralischen Gründen ablehnte, je eine Prostituierte zu spielen. Etwas färbe nämlich immer ab. Dieses Motiv – die Unfähigkeit der Frau, zu spielen oder umgekehrt nie nicht zu spielen – steht zwar nicht im Vordergrund, aber es ist doch erstaunlich, wie am Nadir der Narration, inmitten der zerzaustesten Unbestimmtheit kleine essentialistische Sexismen regieren. Jede Realitätsbedingung, allen voran Zeit und Raum, wird infrage gestellt, aber die Frauen sind Prostituierte, Lügnerinnen und Schauspielerinnen.
Oder Hasen. Eine Hasenfamilie, von Menschen dargestellt und gesprochen, unter anderem von der Dern selbst, gehört zu den immer wieder auftauchenden Weirdness-Motiven. Sie stammen aus einer aus Mini-Episoden (jeweils ca. fünf Minuten lang) bestehenden Serie, die David Lynch vor ein paar Jahren gedreht hat und die man zeitweilig auf seiner Website sehen konnte. Wie so manches anderes, neues Kleinzeug. Lynch probiert da ein Filmemachertum neuen Typus aus. Produziert kleine Leckerbissen für die Fangemeinde, die zuweilen in die immer lockerer werdenden Großformen wie diesen Film eingespeist werden. Das ist natürlich eine sehr interessante Produktionsidee inklusive Kampf gegen YouTube, wo die Dinger natürlich regelmäßig landen und wieder gelöscht werden. Das könnte eine Vorform einer neuen literarischen Existenz für Filmemacher sein, die, nicht mehr an Produktionsfirmen gebunden, Skizzen und Tagebücher und visuelle Blogs produzieren, aus denen dann irgendwann wieder abendfüllende Kinofilme werden. Nur schade, dass die Großformen bei Lynch immer wieder von seiner Kindererschreckmystik der 80er durchsetzt sind.
„Inland Empire“, Regie: David Lynch. Mit Laura Dern, Jeremy Irons u. a., USA, Polen, Frankreich 2006, 172 Min.