: „Historisch sind Warmzeiten gute Zeiten“
Ein Gespräch mit dem Evolutionsbiologen Josef Reichholf über sein Buch „Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends“
JOSEF REICHHOLF ist Professor für Naturschutz an der Technischen Universität München, leitet die Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung in München und ist Präsidiumsmitglied des deutschen World Wide Fund for Nature. Er ist einer der renommiertesten Biologen Deutschlands. Sein neues Buch „Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007, 336 Seiten, 19,90 Euro) verbindet die Geschichte Mitteleuropas mit der Entwicklung der klimatischen Bedingungen.
INTERVIEW CORD RIECHELMANN UND TOBIAS RAPP
taz: Herr Reichholf, „Eine Naturgeschichte des letzten Jahrtausends“ haben Sie ihr Buch genannt. Warum ausgerechnet dieser Zeitraum?
Josef Reichholf: Wir haben seit rund tausend Jahren entsprechend gute historische Aufzeichnungen zur Verfügung. Damit können wir das, was wir als sogenannte Proxidaten der Natur entnehmen, mit historischen Ereignissen zusammenführen. Und der Zeitausschnitt ist ausreichend groß, um große klimatische Änderungen sehen zu können. Es ist kein Kurzzeitrückblick, wie er sonst angestellt wird. Der beginnt ja meistens Mitte des 19. Jahrhunderts, weil man da angefangen hat, die Messdaten der Klimastationen zu sammeln. Damit geht oft einher, dass man so tut, als sei damals die Welt in Ordnung gewesen und als sei es von da an bergab gegangen.
Wie verlief denn die Klimaentwicklung der letzten tausend Jahre in Mitteleuropa?
Eigentlich muss man um das Jahr 800 beginnen. Die Konsolidierung des Frankenreichs unter Karl dem Großen hat ja ein großes Zentralreich in Europa geschaffen, das die alte Macht des Römischen Reichs ablöste. In diesem Frankenreich wuchs die Bevölkerung. Und zwar so sehr, dass man buchstäblich nicht mehr wusste, wohin mit den Menschen. Es gab eine Masse von Städtegründungen in dieser Zeit. Auch München ist in diesen Jahrhunderten des Mittelalters gegründet worden. Die Funde aus der Natur und die Befunde zu den klimatischen Entwicklungen zeigen, dass es eine gute Zeit war. Es war mindestens so warm wie heute. Wahrscheinlich noch wärmer. In Bayern gedieh damals Wein, auch in wesentlich kälteren Regionen als heute. Bayern hat damals Wein exportiert.
Bis es kälter wurde …
Im 13. und 14. Jahrhundert setzten die Klimaverschlechterungen ein. Drei Großereignisse suchten Europa heim: 1342 die schlimmsten Überschwemmungen, die jemals registriert worden sind. Und dann der Einbruch der Nordsee in das, was heute Deutsche Bucht genannt wird. Diese schlimmen Überschwemmungen und Sturmfluten haben im Wesentlichen das heutige Bild von Inseln und Halligen hervorgebracht. Vorher war die Küstenlinie viel weiter in die Nordsee hinein vorgelagert. Dann kam die Pest. Sie wurde aus Schwarzmeerhäfen eingeschleppt. Von dort gab es auch in früheren Jahrhunderten schon Schifffahrtsverkehr. Aber nun musste Getreide importiert werden aus jener Gegend, die heute Ukraine heißt. Das waren die produktiven Gebiete und Europa brauchte Getreide. So kamen die Ratten mit. Die kamen ja nicht mit einem Schiff, das Seide transportiert. Das dritte Großereignis war der Mongolensturm. Die Gunst des Klimas hatte sich bis nach Zentralasien hinein ausgewirkt, und als in Europa das Klima schlechter wurde, reichten die Regenfälle bis in die zentralasiatischen Steppengebiete, die damals hochproduktives Grasland waren, und Dschingis Khan und seine Mannen wurden in die Lage versetzt, das größte Weltreich aller Zeiten zu gründen. Mit einem Schlag – und mit Pferden. Dazu muss man sehr produktive Weiden haben.
Eine Katastrophenzeit. Und Bayern wird zum Bierland.
Tatsächlich ließ sich Wein in vielen Gegenden nicht länger anbauen, und die kalten Winter sorgten dafür, dass bis weit ins Jahr hinein genug Eis zum Kühlen des Biers da war. Am Ende des 15. Jahrhunderts gibt es eine kurze Zwischenerholung, bis dann ein noch stärkerer Witterungsumschwung einsetzt: die sogenannte kleine Eiszeit. Die ist etwa über die Bilder der holländischen Meister dokumentiert – die Jäger im Schnee, die vereisten Grachten, auf denen die Holländer Schlittschuh laufen. Das lernt man nicht in einem Eiswinter. Es muss viele solche Winter gegeben haben. So große Seen wie der Bodensee waren regelmäßig für lange Zeit zugefroren. Auch die Ostsee. Das geht so bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts, als es sich zaghaft erwärmt. Und seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es nun eine wirkliche Klimaerwärmung, zunächst zögerlich und mit Schwankungen, mit Hitzesommern wie dem von 1807, der durchaus dem von 2003 vergleichbar ist. Aber vor allem mit einer Serie kalter Winter, die dann immer seltener werden. Bis in die Gegenwart.
Wie kommt es, dass immer wieder gesagt wird, die heutigen Temperaturen seien so ungewöhnlich hoch?
Die heutigen Klimamodelle gehen von diesem Tiefstand aus. Würde man sie auf den Durchschnitt der letzten 1000 Jahre beziehen, dann sind wir noch gar nicht im oberen Bereich. Und vollkommen falsch ist es, wie vielfach behauptet wird, dass es noch nie so warm gewesen wäre wie heute. Das ist absurd: vor 120.000 Jahren gab es Nilpferde am Rhein und an der Themse. Diese Daten sollte man sich anschauen, bevor man die aktuellen Zahlen zu Horrorszenarien aufbauscht. Außerdem, und das zeigt der Rückblick in die vergangenen tausend Jahre in aller Deutlichkeit: Es waren die Kaltzeiten, in denen wir und andere Teile der Welt von den großen Katastrophen heimgesucht wurden. Nicht die Warmzeiten.
Heißt das nun: Alles in Ordnung, soll die Welt wärmer werden, umso besser für uns? Weiter den Regenwald abholzen, so tun, als wäre nichts?
Nein. In diesen Gebieten geht es um die Vielfalt der vorhandenen Arten. Das ist der Kernpunkt. Und da geht es mir gar nicht so sehr um die potenzielle ökonomische Nutzung, die damit einhergeht, die medizinische Forschung, die aus unbekannten Pflanzen neue Wirkstoffe gewinnen könnte. Es gibt allemal Grund genug zu sagen: Wir müssen die Schönheit der Natur erhalten. So wie wir auch vom Menschen Gemachtes erhalten. Niemand würde den Kölner Dom abreißen, weil im Nahbereich gerade Steine benötigt werden. Ein Tiger ist nicht ersetzbar. Wenn der ausgestorben ist, dann ist er weg. Da kann man zu Recht die Frage stellen: Müssen Arten wie der Jaguar in Südamerika aussterben, nur weil wir in Europa so unmäßig viel Fleisch produzieren wollen, dass riesige Flächen in den Tropen abgeholzt werden, um Futtermittel anzubauen? Zumal die Subventionen für die europäische Landwirtschaft das unterstützen.
Sie beschreiben die Natur als Kulturlandschaft. Der Artenreichtum in Deutschland, sagen Sie, hat viel zu tun mit dem Menschen. Wie kann es sein, dass so etwas Künstliches wie ein Stausee so vielfältige Biotope ausbildet?
Man muss sich die Frage stellen: Wie alt sind unsere Seen? Nehmen Sie die Seen rund um Berlin, die sind kaum 10.000 Jahre alt. Das ist nichts im Vergleich mit dem Alter der Flüsse. Die Donau ist Millionen Jahre alt. Seen sind von Natur aus vergänglich. Und die meisten Seen sind aus zurückgestautem Eiswasser entstanden. Das bedeutet, dass das, was die Technik mit Stauseen macht und was man jahrhundertelang mit Mühlteichen gemacht hat, nichts Neues ist. Tiere, Pflanzen und Mikroben, die solche Gewässer bewohnen, finden also keine grundlegend andere Situation vor, wenn solche Bauwerke errichtet werden. Es gibt auch Seen, die abflusslos sind, und selbst die sind von Fischen bewohnt. Deshalb ist auch das Argument, dass eine Staumauer die Wanderung von Fischen behindert, zwar richtig, aber doch unzureichend. Denn es steht nirgendwo geschrieben, dass alles so bleiben muss, wie es ist, nur weil es ein paar tausend Jahre lang so war. Die mittelfristige Zeitdimension ist der Umweltdiskussion vollkommen abhanden gekommen. Man tut so, als ob die Welt im besten aller möglichen Zustände gewesen wäre, als die westlichen Naturforscher sie entdeckten und angefangen haben, objektiv zu messen, zu beobachten und aufzuzeichnen.
Obwohl die Temperatur seit vielen Jahren steigt, nimmt die Zahl der wärmeliebenden Tier- und Pflanzenarten in Bayern ab. Wie kann das sein?
Im 19. Jahrhundert war das Land in ganz Mitteleuropa massiv übernutzt. So sehr, dass die Böden so ertragsschwach waren, dass sie nicht mehr leisten konnten, was die Bevölkerung brauchte. Die Menschen wanderten zu Tausenden aus, weil das Land nichts mehr hergab. Das änderte sich mit einem Schlag, als Justus von Liebig den Kunstdünger erfand. Er fand heraus, dass sich feststellen lässt, was den Böden fehlt. Dass nicht nur der Mist das Wachstum fördert, sondern weitere Stoffe. Mit dieser Erkenntnis konnte nicht nur gezielt Mangel behoben, sondern auch überdüngt werden. Sodass die Produktion über das normale Maß hinaus steigen konnte. Die Folge dieser Überdüngung ist, dass mehr Wirkstoffe in die Böden hineingebracht als über die Ernte wieder herausgeholt werden. Früher war es umgekehrt, da hat die Ernte mehr entzogen, als über den Mist zurückgebracht werden konnte, also magerten die Böden aus. Jetzt reichern sie Nährstoffe an. Das bedeutet, dass immer weniger Pflanzenarten immer besser wachsen können. Und weil die Vegetation so gut mit Nährstoffen versorgt ist, wächst sie im Frühjahr schneller und dichter auf.
Das Land verschattet.
Richtig. Der Aufwuchs erzeugt am Boden ein kühles und feuchtes Kleinklima. Die meisten Arten, die wir als wärmeliebend einstufen, brauchen trockene und offene Böden, das ist ihr Lebensraum. Die Überdüngung macht alles zu. Also wird es kälter. Auch wenn die Metereologen höhere Temperaturen messen.
Sie benutzen explizit den Begriff „Naturgeschichte“. Das ist ungewöhnlich, gerade in Deutschland. Seit Alfred Brehms „Tierleben“ hat das kein Biologe mehr gemacht. Heißt das, dass Sie geisteswissenschaftliche Methoden in Ihre Arbeit einbeziehen?
Den Begriff habe ich aus zwei Gründen gewählt. Erstens sind die Abläufe in der Natur Geschichte. Also nicht vergleichbar mit chemischen oder physikalischen Zuständen, die reversibel sind. Dadurch müssen die Prinzipien der Geschichtswissenschaften in der Biologie genauso oder zumindest gleichrangig angewendet werden. Man kann nicht so tun, als ob es sich bei der Natur nur um die physikalischen oder chemischen Vorgänge handeln würde. Und zweitens hat die Naturbetrachtung auch so angefangen. Der Begriff der Geschichte ist aus der Biologie verdrängt worden, zugunsten einer pseudowissenschaftlichen Art und Weise, mit der die Biologie sich an die exakten Wissenschaften anbiedern wollte.
Im Ergebnis kommt es fortwährend zu Missverständnissen, weil die Naturwissenschaften so tun, als sei die Biologie gar keine exakte Wissenschaft, weil sie dem direkten Experiment nicht zugänglich ist. Dann wäre Geschichte allerdings auch keine Wissenschaft, sondern nur ein Aufzählen von Ereignissen, ohne dass man Gründe oder Hintergründe erfassen könnte. Als Evolutionsbiologe sehe ich hingegen keine Kluft im methodischen Vorgehen zwischen den rein auf den Menschen bezogenen historischen Wissenschaft und der naturhistorischen Wissenschaft.