: Dieses müde Herz braucht Bewegung
Der Film „Man muss mich nicht lieben“ von Stéphane Brizé geht Umwege auf dem Pfad zum kleinen Glück
Wer sich alt fühlt und verbraucht, wer der Teilhabe an Liebe, Sex und Zärtlichkeit schon lange enträt, der hat in dieser Welt zwei Möglichkeiten. Er schreibt ein Buch, nach dem sich alle anderen noch schlechter fühlen als er selbst, während er in seinem neuen irischen Cottage sein Geld zählt. Oder er trägt sich in einen Tanzkurs ein und lernt jemand Nettes kennen. Das Problem von Jean-Claude (Patrick Chesnais) ist nun allerdings, dass er überhaupt nichts fühlt. Es wird älteren Herren ja gerne vorgeworfen, dass sie eine Fantasie haben. In dem Punkt ist Jean-Claude völlig unschuldig. Dass er zur spektakuläreren, geradezu fantastischen Option zwei, dem Tanzkurs, greift, verdankt er allein seinem Arzt. Jean-Claudes müdes Herz braucht Bewegung. Und „Man muss mich nicht lieben“, ein feiner französischer Film von Stéphane Brizé, arbeitet mit einigen sehr deutlichen Symbolen.
In seinem Beruf kann Jean-Claude im Grunde sehr viel bewegen, aber nicht zum Guten. Er ist Gerichtsvollzieher. Wenn er seinen ermatteten Körper unter gehörigem Schnaufen die Treppen hochschleppt, hat man noch Mitleid mit ihm. Wie er dann einer verzweifelten Mieterin den Konfiszierungsbescheid zustellt, mit einem achselzuckenden „Geht mich nichts an“, ist es verflogen. Man kann ihn nicht lieben, da will Regisseur Stéphane Brizé nichts beschönigen. Es ist aber vor allem die kleine Meisterleistung von Patrick Chesnais, dass man in seinem sagenhaft zerfurchten Gesicht partout keine Sorgenfalten zu erkennen vermag. Es sind Falten ohne Ausdruck. Was zuerst da war, der Beruf oder der Mensch, will man gar nicht wissen. Zunächst einmal. Die Begegnung mit seiner um einiges jüngeren Tanzpartnerin Françoise (Anne Consigny), die ein merkwürdiges Interesse für ihn entwickelt, ändert das natürlich. Wenn er dann auch noch seinen geifernden Vater im Altersheim besucht, in sturer Pflichterfüllung mit ihm Monopoly spielt wie jeden Sonntag, und wenn er seinen sensiblen, Pflanzen liebenden Sohn in die Kanzlei einarbeitet, um die Genealogie des Elends fortzuschreiben, beginnt man etwas zu begreifen.
Irgendwann erblickt man sie eben doch, die kleinen Sensationen in diesem Gesicht, das schon Vergleiche mit den Gesichtern Kaurismäkis provoziert hat. Eine stoische Duldungsstarre, die so etwas wie einen Gefühlsapparat erahnen lässt. Wie lange kann Jean-Claude noch funktionieren? Wann packt Brizé die humanistische Keule aus? Wird es jetzt so richtig sentimental? Oder wird der gallige Kaurismäki-Stil konsequent durchgezogen?
Der Tanzkurs, es ist ein Tangokurs, gehört übrigens zu Françoise’ Hochzeitsvorbereitungen. Wir wissen das, Jean-Claude weiß es nicht. Was wir wiederum nie erfahren werden, ist, was um Himmels Willen diese bezaubernde Melancholikerin in ihm zu sehen meint. Schon wieder eine Sensation: Ein Film, der es sich erlaubt, seine wichtigsten Handlungsprämissen unerklärt zu lassen!
Der Blick auf Françoise’ Verlobten enthüllt allenfalls ein Faible für Stinkstiefel. Der Tango, gemeinhin mit Leidenschaftlichkeit assoziiert, gibt auch nicht viel her. Ist dies doch ein Tanzfilm, in dem erfreulich wenig getanzt wird. Rücken gerade, Arm auf die Schulter, und dann rück, ran, seit, schließen: Selten wurde Tanz so auf seine materiellen Grundlagen reduziert. Der Tango ist vor allem eine arg mühselige Schrittfolge, aber eben auch eine erste symbolische Umarmung, die Möglichkeit zur Verabredung.
Mehr hat Jean-Claude nicht gebraucht. Er traut sich sogar, der Dame seinen Beruf zu erklären: „Es geht um … äh … Kontakt.“ Und schon steht er in der Parfümerie, um in höchster Verwirrung einen Duft mit dem Namen „Passion Intense“ zu erstehen.
„Man muss mich nicht lieben“ ist letztlich einfach gestrickt. Es ist ein Film, der Trost spendet, der vom Alter handelt und von der Sehnsucht nach Berührung, die oft verschüttet liegt. Brizé geht den Pfad zum kleinen Glück über allerlei Umwege, es gibt Enttäuschungen und ein eher offenes Ende, wie sich das gehört. Aber das irritierende Moment beschränkt sich auf einen grobkörnig-dokumentarischen Gestus, den man in der Regel mit Realismus verwechselt. Die Dogma-Filmer wussten noch, dass es sich dabei um einen Verfremdungseffekt handelt: So bringt man die unglaublichsten Geschichten unters Volk. Man muss den Film für diese kleine Schummelei nicht lieben, aber man kann ihm auch unmöglich böse sein. PHILIPP BÜHLER
„Man muss mich nicht lieben“, Regie: Stéphane Brizé. Mit Patrick Chesnais, Anne Consigny u. a., Frankreich 2005, 93 Min.