Reisebericht Senegal Februar 2017 : Auf die eigenen Kräfte vertrauen!
Manfred Liebel berichtet über eine Begegnung mit der "Afrikanischen Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher", die taz-Reisen auf seine Initiative hin ins Programm aufgenommen hat.
Eine „taz-Reise in die Zivilgesellschaft“, die vom 18. Februar bis 2. März in den Senegal führte, bot Gelegenheit, sich über die Afrikanische Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher zu informieren. Die Reisegruppe traf sich mit Basisgruppen in Saint-Louis und Thiès und konnte mit den Kindern und Jugendlichen ausführliche Gespräche über die Ziele, Aktivitäten und Erfahrungen der Bewegung führen.
Saint-Louis, im Norden des Senegal an der Grenze zu Mauretanien, ein Städtchen mit morbidem Charme, das zu Kolonialzeiten einmal die Hauptstadt von Französisch-Westafrika war. Auf den Straßen hunderte von kleinen Jungen, meist in Gruppen, die mit weiß angemalten Büchsen und Kästchen in der Hand die Passanten beharrlich um Münzen angehen. Es sind Talibés, Schüler von Koranschulen, die im Auftrag ihrer religiösen Lehrer, der Marabouts, Geld sammeln. In diesen Schulen, den sog. daaras, werden vor allem Jungen im Lesen und Rezitieren des Korans unterrichtet. Außer vereinzelten Tourist*innen scheint sich kein Einheimischer an den bettelnden Kindern zu stören. In der islamisch geprägten Gesellschaft Senegals ist es allgemeiner Brauch, den Bedürftigen eine Gabe zukommen zu lassen, zumal wenn es einem (so wird angenommen) wohltätigen Zweck dient.
Am Nachmittag sind wir, die sieben Teilnehmer*innen einer „taz-Reise in die Zivilgesellschaft“, in Saint-Louis mit der Ortsgruppe der Afrikanischen Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher verabredet. Der Kontakt war uns durch mir bekannte Mitarbeiter im Koordinationsbüro der Bewegung, das in der Hauptstadt Dakar gelegen ist, vermittelt worden. Zu unserer Überraschung warten auf uns in einem Innenhof im Stadtzentrum ausschließlich Mädchen, schätzungsweise zwischen 12 und 18 Jahre alt. Sie stellen sich als die gewählten Delegierten der 18 Basisgruppen vor, aus denen sich die Bewegung in Saint-Louis zusammensetzt. Sie sind eigens zu unserem Treffen aus den Vorstädten gekommen, wo die Bewegung nach den Angaben unserer Gastgeberinnen nicht weniger als 1.800 Mitglieder umfasst, im Schnitt also hundert in jeder Gruppe.
Die Delegierten berichten uns, dass sich in der Bewegung Jungen ebenso wie Mädchen organisiert haben, die sich mit den verschiedensten Arbeiten in Haushalten, auf Märkten oder in Werkstätten den Lebensunterhalt verdienen oder in ihren eigenen Familien jüngere Geschwister betreuen und andere Hausarbeiten übernehmen (sie betonen, dass sie darin eine „richtige Arbeit“ sehen, die ebenso wie Erwerbsarbeit Anerkennung verdient). Das Betteln gehöre nicht dazu, aber sie stünden in Kontakt zu einigen Koranschulen und in manchen Fällen hätten sich Talibés andere Tätigkeiten gesucht und der Bewegung angeschlossen. Sie verstünden sich auch nicht als Konkurrenz zu diesen Schulen, sondern wollten eher dazu beitragen, dass in ihnen auch gelernt werde, wie man selbstständig im Leben zurechtkommt.
Zu den wichtigsten Tätigkeiten der Basisgruppen gehört, auf Französisch Lesen und Schreiben zu lernen. Französisch ist die Amtssprache Senegals, die vor allem in der Verwaltung und der Schule verwendet wird. Daneben gibt es sechs Nationalsprachen, von denen Wolof am weitesten verbreitet ist. Sie werden bisher allerdings weder als Unterrichtssprache gebraucht, noch in der Schule gelehrt. Bestrebungen, dies zu ändern, sind bisher nicht weit gekommen. Beim Treffen in Saint-Louis sprechen die Mädchen mit uns in Wolof und unser Reiseleiter Ibou Coulibaly Diop übersetzt. Die Mädchen betonen, ihre eigene Sprache sei ihnen wichtig, aber um im Leben voranzukommen, sei es unabdingbar, sich auf Französisch zu „alphabetisieren“.
Kaum eine unserer Gesprächspartnerinnen hatte bisher eine Schule besucht oder, wenn das der Fall war, nur kurze Zeit. Sie sehen eine ihrer Aufgaben darin, allen arbeitenden Kindern den Zugang zur Schule zu verschaffen, verstehen aber ihr Recht auf Bildung auch so, dass sie in der Schule mit ihren Erfahrungen als arbeitende Kinder ernstgenommen werden und Dinge lernen können, die sie im Leben gebrauchen können (wozu sie auch ausdrücklich eine Sexualkunde zählen, die vor allem Mädchen dazu anhält, sich selbst zu vertrauen und anderen, die sich ihrer bemächtigen wollen, Grenzen zu setzen). Bei Schwierigkeiten mit der Schule unterstützen sie sich gegenseitig, um mit ihnen besser klar zu kommen und die Schule abschließen zu können. Hierbei finden sie die Unterstützung erwachsener Mitarbeiter*innen, die teilweise auch Lehrer*innen sind.
Eine weitere wichtige Aufgabe der Basisgruppen besteht darin, sich für Tätigkeiten zu qualifizieren, die den Kindern und Jugendlichen ein besseres Leben und eine bessere Zukunft ermöglichen. Dies sind nicht allein fachlich-berufliche Qualifikationen in dem uns in Europa vertrauten Sinn, sondern Qualifikationen, die ihnen eine „Arbeit in Würde“ und den Aufbau gemeinsamer, selbstbestimmter Arbeitsprojekte ermöglichen (von ihnen „einkommensschaffende Aktivitäten“ genannt). Hierfür betreiben sie Lernwerkstätten z.B. für Schneiderei, Stickerei, den professionellen Gebrauch von Computern oder wie man Hausgärten für die organische Herstellung von Lebensmitteln anlegt.
An ihren bisherigen Arbeitsstellen sehen sie sich meist schlecht behandelt und ausgebeutet. Als „Dienstmädchen“, so erzählen uns unsere Gesprächspartnerinnen, müssten sie oft sieben Tage die Woche arbeiten und verdienten im Monat umgerechnet nur zwischen 22 und 38 Euro, was auch im Senegal nicht einmal für den eigenen Lebensunterhalt ausreicht. Mit der Gründung kleiner Kooperativen, in denen sie in eigener Regie lebenswichtige Güter herstellen und alle Entscheidungen selbst treffen, hoffen sie, für sich bessere Lebensperspektiven zu finden. An anderen Orten im Senegal konnten wir auch bei älteren Frauen erfahren, dass diese Form der sozialen oder solidarischen Ökonomie, in der z.B. Seife, Lebensmittel oder künstlerisch gestaltete Kleidungsstoffe hergestellt werden, weit verbreitet ist und oft den Lebensunterhalt sichert.
Die Aufgaben, die sich die Bewegung der arbeitenden Kinder und Jugendlichen gestellt hat, gehen noch über das Lernen und die Vorbereitung auf ein würdevolleres Arbeitsleben hinaus. So verstehen sich die Basisgruppen auch als eine Art ältere Geschwister (franz. „ainées“), die Kinder ermutigen, sich gegen jede Art von Gewalt zu wehren, und sie dabei unterstützen. Zum Beispiel engagiert sich die Bewegung gegen die im Senegal noch verbreitete Zwangsverheiratung von Mädchen und Jungen, oder sie steht Kindern zur Seite, die ihre Familien verloren haben, auf eigene Faust auf der Straße überleben müssen oder ohne Begleitung aus Nachbarländern in den Senegal eingewandert sind (viele Talibés z.B. stammen aus dieser Gruppe). Sie unterstützen diese Kinder, indem sie sie in ihre Basisgruppen integrieren und ihnen „Mentor*innen“ zur Seite stellen, öffentlich gegen Missstände protestieren oder Nachbarn und staatliche Autoritäten an ihre Verantwortung für die Kinder erinnern (von ihnen „Sensibilisierung“ genannt).
In unseren Gesprächen gewannen wir den Eindruck, dass es den in der Bewegung organisierten Kindern und Jugendlichen nicht in erster Linie darum geht, politische Parolen zu verbreiten, sondern im Alltag sich gegenseitig und anderen in Not geratenen Kindern beizustehen und Schritt für Schritt ein besseres Leben zu erreichen. Die Quintessenz der Bewegung liegt darin, dass sie nicht nur Forderungen an staatliche und andere Autoritäten stellt (das tut sie aus gegebenen Anlässen auch) oder für bessere Gesetze kämpft (Gesetze gelten weitgehend als folgenlos oder Erbe der Kolonialzeit), sondern vor allem durch solidarisches Handeln das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die eigene Stellung als sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche in der Gesellschaft stärkt.
In Saint-Louis betonten unsere Gesprächspartnerinnen, es sei im Senegal keineswegs ungewöhnlich, dass Mädchen zu Delegierten gewählt würden. Und tatsächlich trafen wir kurz darauf in Thiès, der zweitgrößten Stadt des Senegal, eine weitere Delegiertengruppe, die bis auf einen einzigen Jungen wiederum aus Mädchen bestand. Bei dieser Gelegenheit erinnerte ich mich, dass schon in den Anfängen der Afrikanischen Bewegung junge Frauen eine treibende Kraft waren. In den 1990er Jahren waren es junge Hausbedienstete, auf Französisch Petites Bonnes genannt, die auf einer Demo am 1. Mai in Dakar auf Schildern und Transparenten gefordert hatten, ihre Würde und ihre Rechte zu respektieren. Sie hatten damit eine soziale Bewegung in Gang gebracht, die heute in 27 afrikanischen Ländern aktiv ist und fast eine Million Mitglieder umfasst. Sie ist über ihre Länder hinaus als Interessenvertretung der arbeitenden Kinder und Jugendlichen anerkannt und z.B. bei der Afrikanischen Union als zivilgesellschaftliche Organisation akkreditiert.