Nominierte 2018 (IV): KULTURISTENHOCH2 : Begegnung ist das Entscheidende
Der Verein ermöglicht bedürftigen Hamburger SeniorInnen kostenlose Besuche kultureller Veranstaltungen – begleitet von OberstufenschülerInnen.
Von MAREIKE BARMEYER
Wenn 42.000 alte Menschen in einer Stadt wie Hamburg nicht genug Geld haben, tut das weh“, sagt Christine Worch. Sie ist Initiatorin und Erfinderin des Generationenprojekts KULTURISTENHOCH2, das seit 2016 wirtschaftlich bedürftigen Senior*innen in Hamburg den Besuch von Kulturveranstaltungen ermöglicht. Das Besondere daran: Begleitet werden diese von ehrenamtlich engagierten Schüler*innen aus ihrem Stadtteil.
Christine Worch steht in den Räumlichkeiten der Hartwig Hesse Stiftung in Hamburg. Die Stiftung betreibt Seniorenwohneinrichtungen in der Hansestadt und ist einer von vielen Kooperationspartnern, die dieses Projekt ausmachen. Vor ihr auf den Tischen liegen schwarze Westen, Handschuhe und merkwürdige Dinge, die aussehen als ob sie zur Standardausrüstung einer SEK-Einheit gehören würden. „Das sind alles Bestandteile eines GERTS“, erklärt Worch.
Eines Gerontologischen Testanzuges, welcher das Körpergefühl und die schwindende Bewegungsfreiheit älter werdender Körper simuliert. Mit diesem Anzug sollen heute die gerade eintreffenden Schüler*innen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren am eigenen Leib lernen, wie es ist alt zu sein: Dazu gehören Gewichte an Füßen, Oberkörper, Beinen und Händen, eine Halskrause und Brillen mit unterschiedlichen Seheinschränkungen.
Diesmal müssen die Schüler*innen im GERT den öffentlichen Raum neu erkunden. Bus und Bahn fahren, im Supermarkt einkaufen und im Park spazieren gehen. Ein Paar der Schüler*innen werden zusätzlich noch mit Gehstock und Rollator ausgestattet. „Natürlich hat nicht jeder alte Mensch alle diese Einschränkungen“, erklärt Worch.
Die Jugend mit ins Boot holen
Vor fünf Jahren begann sie beim Verein KulturLeben Hamburg e. V. als Beraterin zu arbeiten, einer Organisation, die in ganz Hamburg Kulturkarten an bedürftige Menschen – jeden Alters – vermittelt. Dort hätte sie festgestellt, dass ältere Menschen oft gesagt haben: „Ich würde da ja gerne hingehen, aber ich habe niemanden mehr und traue mich nicht raus.“ Das ist ein Problem, hatte sich Worch gedacht und überlegt, wie sie es lösen könnte: „Das Beste wäre es“, erzählt Worch ihren Gedankengang, „angesichts dessen, dass wir einen Wandel in der Gesellschaft haben, nämlich eine Überalterung, dass man gleich die Jugend mit ins Boot holt.“
Gedacht, getan, das Kultur-Tandem war geboren und aus den drei Schulen, mit denen sie vor zwei Jahren als Kooperationspartner angefangen haben, sind heute zehn geworden. Über 300 Jugendliche hätte das Projekt bis heute bewegt. „Was soll ich machen“, sagt Worch. „Ich glaube einfach an die Jugend.“
Das Schüler-Training mit dem GERT ist einer von mehreren Workshops, den die Schüler, die sich für dieses frühe Ehrenamt gemeldet haben, durchlaufen. Bevor sie mit einem älteren Menschen ein Kulturtandem bilden können, müssen sie wissen und fühlen, was es heißen kann, alt zu sein.
Wie so ein Tandem funktioniert, erklärt Friederike Henning, die bei dem Projekt zuständig für das „Matching“ der Senior*innen und Schüler*innen ist: Sie sichtet was an Veranstaltungen im Angebot ist, schaut welche Senior*innen im Projekt sich für was interessieren und wenn sie jemanden erreicht hat, der/die Lust dazu hat, setzt sie sich mit den Schüler*innen, die zu dem jeweiligen Stadtteil gehören, über eine WhatsApp-Gruppe in Verbindung. Sobald sich dort jemand meldet, gibt sie die Kontaktdaten der Senior*in weiter.
Konkret etwas tun, damit es den Menschen besser geht
Der nächste Schritt für die Schüler*innen ist dann, die Senior*innen anzurufen und sich mit ihnen zu verabreden. Auch eines der Dinge, die in den Workshops vorher geübt werden. Für viele Schüler*innen wäre es ja oft das erste Mal auf eine fremde Person zuzugehen, erklärt Frauke Müller, ehemalige Lehrerin und Zuständige für die Rekrutierung der Schüler*innen an den Schulen in Hamburg. Für viele der Alten wäre das gemeinsame Hingehen ganz wichtig. „Was dann passiert, wie gut man sich versteht oder was dann noch weitergeht, das liegt an den beiden.“
Im Anschluss an das Kulturerlebnis, werden sowohl Senior*in wie auch Schüler*in um eine Rückmeldung gebeten. „Das ist bei uns im Projekt gängige Kultur“, erklärt Müller. „Weil wir damit immer ganz dicht dran sind an den Senior*innen und Schüler*innen.“ Von den älteren Menschen kommt dann oft: Kultur wäre schön, aber die Begegnung mit den jungen Menschen mache es zu einem besonderen Erlebnis. „Die Begegnung ist das Entscheidende.“
Auch wenn mal was nicht geklappt hat, fließt das gleich mit in die weitere Projektentwicklung ein: In einem Fall hätte ein junger Mann die Senior*in, mit der er verabredet war, telefonisch einfach nicht erreichen können, hatte dies daraufhin an das Team von KULTURISTENHOCH2 weitergeleitet und die fanden dann heraus, dass die Dame unter beginnender Demenz leidet. Weil sie die Menschen aber gerne im Projekt behalten möchten, so Müller, würde jetzt auf dem Anmeldeformular einfach um eine weitere alternative Telefonnummer gebeten.
Außerdem hätten sie mit der Alzheimer Gesellschaft Kontakt aufgenommen und jetzt gebe es einen Workshop für die Schüler*innen zum Thema Demenz. „Die Schüler*innen sind also nicht nur diejenigen, die die Begleitung machen und die Senior*innen nicht nur die es nutzen, sondern sie sind auch immer Teilnehmer des Projektes und damit an der Entwicklung beteiligt,“ erzählt Müller. „Unser partizipativer Charakter ist ein Qualitätsmerkmal,“ ergänzt Christine Worch nicht ohne Stolz.
Die Scham überwinden
„Das Thema Altersarmut muss politisch bewegt werden“, sagt Müller. „Und die Frage ist: Was können wir ganz konkret in diesem Moment, jeder einzelne von uns tun, damit es diesen Menschen etwas besser geht, damit sie wieder teilnehmen können?“ Das wäre auch das Besondere an diesem Projekt, fügt sie hinzu: „Es bietet die Möglichkeit mit ganz wenig Aufwand viel zu bewirken.“
Doch ganz so minimal ist der Aufwand nicht, jedenfalls nicht für die Macher*innen der KULTURISTENHOCH2. Jene von Armut betroffenen Senior*innen überhaupt zu finden und dann auch noch für die Idee zu gewinnen, beansprucht besonders viel Energie. Der Grund dafür: „Die Scham ist sehr groß in dieser Gesellschaft, in unserer reichen Stadt Hamburg, sich zu outen und zu sagen: Ich gehöre zum armen Teil der Gesellschaft“, erklärt Christine Worch.
Ist das Eis erst einmal gebrochen werden die Schulen in der Nachbarschaft angesprochen. Dies ist eine weitere Besonderheit des Projekts: Es agiert bewusst Stadtteil-orientiert. Aus gutem Grund, wie Frauke Müller zu berichten weiß, denn inzwischen hat sich etwas eingestellt, was die KULTURISTENHOCH2 zwar als Wunsch hegten, dessen rasches Eintreten sie aber so nicht erwartet hätten: „Dass es eben auch einfach Begegnungen im Stadtteil gibt.“ Will heißen, sobald Schüler*innen und Senior*innen einmal ein Kulturtandem gebildet haben besteht die Chance, dass der Kontakt auch im Alltag eine Fortsetzung findet.
„Hey, wir bewirken wirklich was.“
Bei den Kulturveranstaltungen selber sei es ganz wichtig, sich auf Augenhöhe zu begegnen, erzählt Worch. Deshalb sei die Karte für die Veranstaltung auch immer auf den Namen der Senior*innen hinterlegt, die Schüler*innen bringen zehn Euro aus einem Spendentopf für ein Pausengetränk mit. „Das besprechen wir mit den Schüler*innen auch im Vorfeld: Es geht an diesem Abend nicht um Armut, sondern es geht darum, gemeinsam etwas Nettes zu erleben. Und dazu gehört ein Pausengetränk.“
Gerade im Alter brauche man doch einiges, dass man sich dazu kaufen müsste, damit man ein bequemeres Leben haben kann, erzählt Worch. 81% ihrer teilnehmenden Senior*innen seien Frauen. „Altersarmut ist weiblich.“ Viele der alten Menschen würden berichten, dass sie schon auf dem Weg in den Rückzug waren, bevor sie zu den KULTURISTENHOCH2 kamen. Das wäre ein sehr großer Motor für alle Mitarbeitenden, zu merken: „Hey, wir bewirken wirklich was.“
Sie alle seien sehr überrascht, wie schnell das Projekt gewachsen ist. Momentan sind sie an einem Punkt ihrer Entwicklung, wo die Rahmenbedingungen unbedingt professionalisiert werden müssen, damit es die Kulturtandems auch in Zukunft weiter geben kann. Dazu haben sie gerade die Stiftung „Generationen-Zusammenhalt“ gegründet. Außerdem entwickeln sie einen Leitfaden: „Dieses Projekt ist übertragbar auf andere Großstädte, wo es so etwas wie den Verein Kulturleben gibt“, erklärt Frauke Müller.
Die Renten könnten sie nicht erhöhen, schließt Christine Worch. „Aber wir können den älteren Menschen verschaffen was normal ist: Nämlich Begegnung, Austausch und Teilhabe.“