Nominierte 2017: Tiertafel Hamburg : Seelsorge für Tiere und Menschen
Tafeln kennt jeder, der ein Herz hat. Es gibt sie ja überall. Aber eine Tiertafel wie die von Kara Schott und ihren Helfer*innen in Hamburg?
Auf einem Rollator sitzend strickt eine Frau aus quietschgelber Wolle ein nicht näher zu definierendes Etwas. Ihr gegenüber stehen im Kreis etwa 20 meist ältere Menschen und diskutieren aufgeregt. „Ist schon halb drei?“, schreit eine Frau immer wieder. Nein.
Noch zehn Minuten bis zur Nummernvergabe. Vor der Hamburger Tiertafel hat sich bereits um 14 Uhr eine lange Schlange gebildet. In brütender Hitze warten eine Stunde vor offiziellem Beginn schon 30 Leute, um an eine möglichst niedrige Wartenummer und damit schnell an Futter für ihr Haustier zu gelangen, vielleicht sogar noch an das besonders begehrte Nassfutter.
Seit 9 Uhr morgens ist das Team der einzigen Tiertafel in Hamburg bereits vor Ort. Bis zu zehn HelferInnen bereiten die Ausgabe alle zwei Wochen vor; fast überwiegend Frauen. Unter ihnen ist auch Leiterin Kara Schott: sie ist seit der Gründung vor zwölf Jahren dabei. „Ich habe mein ganzes Leben auf die Tiertafel ausgerichtet. Ich arbeite hauptberuflich am Wochenende, damit ich mich sonst hier engagieren kann“, erzählt sie. Hauptberuflich – von Freitag bis Montag – arbeitet sie als Kosmetikerin.
Ihre lange blonden Haare sind in einem strengen Zopf gebunden, ihre dunkel geschminkten Augen bilden kleine, zarte Falten beim Sprechen, die von vielen Sorgen, aber auch viel Freude erzählen. Ihre Bedenken lacht sie gekonnt mit einem lauten, echten Lachen weg. „Das ist unheimlich kräftezehrend. Ich würde nicht sagen, dass das ‚nur‘ ein Ehren-amt ist. Das ist ein Zweitjob.“ Und bei beiden müsse sie 100 Prozent geben, denn; die Tiertafel heißt nicht: nur Futter ausgeben. Vielmehr sei man SeelsorgerIn, AnsprechpartnerIn, FreundIn. „Die Schicksale, die man hier miterlebt, berühren sehr. Man leidet mit den Tieren und den Menschen mit.“
Vor allem Hartz-IV-EmpfängerInnen, (Früh-)RenterInnen, DrogengebraucherInnen, Obdachlose, Frauen, die in Frauenhäusern leben müssen, und Menschen, die in der Privatinsolvenz stecken, sind auf die Angebote der Tiertafel angewiesen.
Ihr Engagement ist wie eine Win-win-Situation
Was die Mitarbeitenden schnell gelernt haben: dass jeder rasend schnell und ohne Halt in die Tiefe rauschen kann. „Von der Leiter fallen – das kann jedem passieren.“
So auch einer 62-Jährigen, die schon seit fünf Jahren zur Tafel kommt. „Früher hab ich so viel Geld verdient. Jetzt ist nichts mehr davon übrig“, erzählt sie beim Warten auf die Ticketvergabe. Als ihre Schwester zum Pflegefall wurde, habe sich alles geändert. „Ich bereue nichts“, sagt sie heute. „Aber fair ist das nicht.“
Ein Fall, der exemplarisch für viele BesucherInnen der Tiertafel steht. Viele hätten ihr Leben lang gearbeitet, sagt Schott, und müssten nun von 300 Euro im Monat leben. Wenn dann die 18-jährige Katze Diabetes bekommt und das Futter vom Discounter für 39 Cent nicht mehr verwendet werden kann, sei das ein großes Problem, das Tierheim jedoch keine Lösung: „Nicht für das Tierheim und nicht fürs Tier. Allein die Kosten. Deswegen ist das eine Winwin- Situation, wenn wir eingreifen und helfen.“ Mit dem Ausfall des Gehalts brechen gleichzeitig oft die sozialen Kontakte weg. Die Menschen würden schlicht vergessen.
Ob Arbeitslosigkeit, Alter oder Krankheit: Irgendwann lasse die Bereitschaft für Besuche und Hilfe bei Verwandten und Freunden nach, resümiert Schott. Das Haustier, es ist der letzte und einzige Freund.
„Wir haben eine Kundin, die hat drei Kinder, alle leben in Hamburg – keiner war jemals hier. Das macht mich richtig wütend. Einmal im Monat muss es doch möglich sein, für den Fiffy ein bisschen Futter abzuholen!“, meint Schott und wird energisch.
Doch nicht für jeden ist der Weg zur Tiertafel endgültig. Gerade für Menschen in Privatinsolvenz ist der Verein eine Überbrückung. „Das ist dann auch toll, wenn man sieht, dass wir ihnen etwas von ihrer Last nehmen können und sie wieder in den Job zurückfinden und neue Energie bekommen.“
Dabei sind die Umstände ihrer Tätigkeit und die Möglichkeit, selbst Energie zu schöpfen nicht leicht. Der Verein ist auf ehrenamtliche Tätigkeit angewiesen. Neben Schott arbeiten an diesem Tag auch die 19-Jährige Michelle Warnecke, die sich schon seit der siebten Klasse im Verein engagiert, und die 18-Jährige Lotte Pannenbäcker mit.
Doch trotz aller Mühen läuft nicht immer alles glatt. Ganze anderthalb Jahre lang fanden sie beispielsweise keine neuen Räume. Die Futterausgabe musste während dieser Zeit auf einem Parkplatz stattfinden. „Wir haben uns einen Container und einen Pavillon angemietet“, erzählt Schott. „Eine verrückte Zeit.“
Bei der Raumsuche stießen sie immer wieder auf Ablehnung und Vorurteile. Tiere seien dreckig. Außerdem: Wer sich das Futter für sein Tier nicht leisten kann, müsse ja zwangsweise auch zu einer „schlechten“ Klientel gehören. „Von Nächstenliebe war da wenig zu spüren“, sagt Schott resigniert. „Uns wurde gar vorgeworfen, dass wir eine Wertminderung für die Gegend seien.“
Es geht wohl immer nur um Cash, Cash und Cash
In den derzeitigen Räumen der Tiertafel stapeln sich die Futterspenden bis an die Decke. Auf dem Boden liegen unzählige 20-Kilogramm-Säcke Hundefutter und Katzenstreu, die vor der Ausgabe noch in kleinere Portionen abgepackt werden müssen. „Die Räume sind viel zu klein. Dabei hatten wir dieses Jahr schon so viele Neuanmeldungen. Das wird eng“, erzählt Schott und schaut besorgt auf die Regale. Bei jeder Ausgabe kommen 80 bis 100 KundInnen. Die Tafel ist fast zur Gänze auf Futterspenden angewiesen. „Ich bin dankbar für jeden Krümel.“
Besonders wichtig ist, dass die Tiertafel mit Tierärzten zusammenarbeitet. Vor allem chronisch kranke Tiere werden behandelt. Deswegen gibt es neben den normalen Angeboten auch Spezialfutter, Physiotherapie, einen Heilpraktiker und auch einen Hundefrisör, der insbesondere bei Hunden mit längerem Fell unerlässlich ist. „Damit die Tiere nicht darunter leiden, dass ihre Besitzer in Not sind.“
„Das Problem ist, dass kaum ein Tierarzt Ratenzahlung akzeptiert“, erzählt Schott. So auch bei einem Paar, das heute mit einem Terrier mit Bisswunde vorbeikommt. Gleich drei Tierärzte hätten eine Behandlung ohne Anzahlung verweigert. „Viele sind damit bestimmt auf die Nase gefallen. Aber man könnte die Besitzer ja mit einem Vertrag haftbar machen. Doch es geht eben doch nur um: Cash, Cash, Cash.“ Auch bei der Tiertafel muss für den Tierarzt bezahlt werden – allerdings nur die Grundkosten.
Die Abschaffung der Ratenzahlung führe dazu, dass die Menschen erst kämen, wenn die Tiere ernsthaft krank seien. „Wir mussten letztes Jahr so viele Tiere einschläfern wie sonst nicht“, sagt Schott. „Unseren Kunden ist das unglaublich peinlich, dass sie kein Geld für ihre Haustiere haben. Wenn sie sehen, wie das Tier leidet, zerreißt es ihnen das Herz.“
Trotz aller Doppelbelastung, fehlender Anerkennung und Rückschlägen: das kleine Team der Hamburger Tiertafel will weitermachen. „Man muss, glaube ich, auch ein bisschen verrückt sein, um hier zu arbeiten. Das ist gar nicht abwertend gemeint, weil ich das ja auch bin“, sagt Schott lachend. „Aber ich liebe diese Arbeit. Das ist einfach so.“