Eiweiß für die Welt : Die Rückkehr der Linse
Die erstaunliche Wiederbelebung einer scheinbar ausgestorbenen Kulturpflanze.
DEUTSCHLAND zeo2 | Woldemar Mammel sitzt am Schreibtisch im großen Arbeitszimmer, ein schmaler Mann mit weißen Haaren und einem weißen Vollbart. Auf dem Fußboden liegen stapelweise Faxe und Papierausdrucke: Alle Welt will seine Linsen. „Das alles war eigentlich Zufall“, sagt Mammel.
Seit 1975 lebt die Familie Mammel auf einem Hof in Lauterach, einem kleinen Dorf am Südrand der Schwäbischen Alb. Mammel hat Biologie studiert, er war Lehrer am Gymnasium. Erst dann ist er über den Selbstversorger-Garten und die Selbstversorger-Bienen und die Selbstversorger- Schafe in die Landwirtschaft reingerutscht. „Wir haben überlegt: Was ist eigentlich früher auf der schwäbischen Alb angebaut worden?“
Die Linse ist eine unscheinbare Pflanze mit kleinen fiedrigen Blättern und weißvioletten Blüten, die gerade einmal einen halben Zentimeter groß werden. In die Höhe wächst sie nur, wenn sie an einer Stützfrucht wie Hafer oder Gerste emporranken kann. Deshalb sieht der Linsenacker auch wie ein Getreideacker aus, nur mit viel Unkraut drin. Das Unkraut sind die Linsen. So rau und steinig die Schwäbische Alb auch ist. Mit ihrem wasserdurchlässigen Jurakalkgestein ist sie für den Schmetterlingsblütler ideal.
Im 19. Jahrhundert wuchsen in Württemberg noch mehrere tausend Hektar Linsen. Doch auch wenn das schwäbische Nationalgericht unverändert „Linsen mit Spätzle“ heißt – Ende der 50er Jahre ging der Linsenanbau auf der Alb zu Ende. „Die Währungsreform 1948 hat dem Linsenanbau den Todesstoß gegeben“, sagt Mammel. „Da konnte man plötzlich wieder alles kaufen, auch Linsen, und musste sich mit dieser mühsamen Arbeit nicht mehr abplagen.“
Linsen können sich ihre Nährstoffe selber besorgen
Denn die Linse ist eine anspruchsvolle Frucht. In regenreichen Sommern wächst und wächst und wächst sie und zur Erntezeit sind dann die unteren Hülsen reif, die in der Mitte sind aber noch grün und oben blüht die Linse noch. Und da ist die Stützfrucht, die mit der Linse zusammen im Feld wächst und die Ernte zusätzlich erschwert. In der hügeligen Landschaft des Lautertals fingen Woldemar Mammel und seine Frau Hildrun Mitte der 80er Jahre mit dem Linsenanbau an.
Zu dieser Zeit kamen die Linsen in deutschen Geschäften vor allem aus der Türkei, aus anderen Mittelmeerländern oder aus Kanada. Die ersten Versuche machte die Familie in ihrem Bauerngarten mit italienischen Berglinsen, im nächsten Frühjahr dann schon auf dem Acker – wenn auch nur auf der Breite einer Sämaschine. Doch das sprach sich herum. 2001 gründete Woldemar Mammel mit zehn weiteren schwäbischen Linsenanbauern die Öko-Erzeuger-Gemeinschaft „Alb-Leisa“.
„Diese Leguminosen passen wunderbar in den Ökolandbau, weil sie durch die Knöllchenbakterien in der Lage sind, Stickstoff aus der Luft zu binden“, sagt Roman Lenz, Professor für Landschaftsplanung an der Fachhochschule Nürtingen. „Die Linsen können sich einen Teil ihrer Nährstoffe selber besorgen, vor allem den wichtigen Stickstoff. Da im Ökolandbau kein Kunstdünger erlaubt ist, passen die Leguminosen sehr gut in die Fruchtfolge.“
Was dem schwäbischen Linsenanbau noch fehlte, war eine traditionell schwäbische Linse. Auf der Alb wurden vor allem die Linsen des Züchters Fritz Späth aus Haigerloch angebaut, Züchtungen aus den 1930er Jahren. „Späth hat eine große, weichkochende und eine kleine, sehr aromatische Linse gezogen.“ Doch die waren verschollen. Scheinbar ausgestorben.
Sorte gelöscht und nicht archiviert
Woldemar Mammel suchte jahrelang nach Späths Linsen. Aus dem Bundessortenregister waren sie gelöscht und auch in der Saatgutbank Gatersleben nicht archiviert. 2006 hat der Zufall Mammel dann mit dem Sortensammler Klaus Lang aus Wolfegg im Allgäu zusammengeführt. Langs Recherchen führten ihn in Archive in aller Welt. Nach einem knappen Jahr hatte er Erfolg: „Ich hab gedacht, das kann doch net sein“, sagt Mammel und lacht.
340.000 verschiedene Pflanzen-Samen lagern im Wawilow- Institut in St. Petersburg, darunter auch 3.000 Linsenzüchtungen. Der russische Botaniker Nikolai Wawilow hat das Institut 1924 gegründet, er sammelte Saatgut, das er auf Forschungsreisen um die ganze Welt aufgelesen hatte. In seinem Institut überlebten auch Späths Linsen – alle sechs Jahre wurden sie auf kleinen Flächen vermehrt, um ihre Keimfähigkeit zu erhalten. In zwei kleinen braunen Tüten wurden die Alb- Linsen zurück auf die schwäbische Alb geschickt. So keimten 2007, ein gutes halbes Jahrhundert nach ihrem Aussterben hierzulande, in Mammels und Langs Garten fast alle 350 Samen. Die Männer waren glücklich.
Woldemar Mammel ist bis dahin überhaupt noch nie in ein Flugzeug gestiegen. Für die wiedergefundenen Linsen macht er eine Ausnahme und setzt sich Ende 2007 mit zehn schwäbischen Linsenbauern in die Maschine nach St. Petersburg. „Die Leute dort, der Direktor, die Abteilungsleiterin für Leguminosen, die ganzen Angestellten vom Wawilow-Institut waren ganz gerührt, dass Leute kommen, die nicht wieder einen Haufen Samen scheffeln wollen. Sondern sich nur bedanken wollen und feiern – und gern noch einmal so zwei kleine Tüten mitnehmen würden, wenn’s keine Umstände macht.“ Mammel lacht. „Und die haben wir auch gekriegt.“ Seit 2008 hat sich die Anbaufläche von 40 auf heute schon 250 Hektar vergrößert. Die Zahl der Anbauer hat sich verdreifacht und liegt mittlerweile bei 70 Bio-Bauern.
Spätestens im Mai ausverkauft
Jetzt stehen in der großen Scheune auf dem Mammel-Hof Trocknungssilos und Saatgutreinigungsmaschinen dicht an dicht. Bis ins Frühjahr wird in Lauterach die Ernte des vergangenen Sommers getrocknet und gereinigt. Streng getrennt nach der kleinen, grün marmorierten Puy- Linse aus Frankreich, der etwas größeren Alblinse 1 und der Alblinse 2, genannt „Die Kleine“.
Ungefähr 80 Prozent der Linsen gehen an Läden und Gaststätten, alle in Baden-Württemberg und Bayern. Für mehr Kunden fehlt es an Ware. Denn bisher waren die Alb-Linsen noch in jedem Jahr spätestens im Mai ausverkauft. Und die Chancen stehen auch weiterhin nicht gut für Linsenfreunde im nicht-schwäbischen Ausland. Die Zahl der Biobetriebe auf der Schwäbischen Alb ist begrenzt.
Für Woldemar Mammel ist die Linse viel mehr als eine regionale Spezialität. „Getreideeiweiß und Linseneiweiß ergänzen sich perfekt. Wenn man das in der Ernährung kombiniert, kommt ein mit tierischem Eiweiß vergleichbares Eiweiß zustande“, erklärt der Biologe. Der Bio- Bauer sieht in der Linse eine Antwort auf die Versorgung der Welt mit preisgünstigem pflanzlichen Eiweiß.
Anette Selg, der Artikel ist erschienen in der Ausgabe zeo2 2/2014. Den Artikel können Sie gerne auf unserer Facebook-Seite diskutieren.