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Aus der zeozwei

Ein Plädoyer für mehr Muße Vom Zwang zu stetigem Wachstum

Feierabend, ein selten gewordener Zustand, in den wir fast nie geraten.

Muße ist die Haltung, die wir annehmen, wenn das Tagwerk vollbracht ist und es keine sozialen Erwartungen mehr an uns gibt. Bild: dpa

Was macht Geld für uns moderne Menschen so ungeheuer attraktiv? Nicht das Geld, das wir dringend für ein Paar Schuhe oder die Monatsmiete benötigen, sondern Geld schlechthin, losgelöst von jedem Verwendungszweck und in schrankenloser Quantität? Im Grunde ist die Antwort ganz einfach: Geld bringt uns Welt in Reichweite, es macht uns Welt verfügbar, beherrschbar.

Wenn ich reich bin, kann ich jederzeit nach Asien oder Brasilien fliegen. Eine Yacht kaufen. Ein Haus bauen. Geld stiftet eine ganz bestimmte Form der Weltbeziehung. Tatsächlich lebt die Kultur der Moderne von der Hoffnung und Verheißung, mehr Welt erreichbar zu machen. Wir ziehen lieber in die Stadt als aufs Land – denn diese bietet uns viel mehr Möglichkeiten. Wir raten unseren Kindern Abitur zu machen, auch wenn sie Gärtner werden wollen, denn das sichert ihnen viel mehr Optionen – und wir wollen kaum mehr Kinder kriegen, weil diese für uns, sind sie erst einmal auf der Welt, als langjährige Optionenvernichter fungieren.

Die Welt in der Hosentasche

Das Smartphone ist in dieser Hinsicht ein gewaltiger Schritt nach vorne, denn es macht uns die gesamte Welt des Wissens, der Kunst, der Nachrichten, der Kommunikation, des Entertainments, sogar der Sexualität, gleichsam in der Hosen- oder Handtasche verfügbar. Vieles spricht für die Annahme, dass wir inzwischen so besessen sind von der Idee der Reichweitenvergrößerung, dass unsere Libido, unser Begehren auf die Vermehrung von Optionen, nicht auf deren Verwirklichung gerichtet ist: Wir begehren das Geld mehr als das, was wir damit kaufen können, das Smartphone mehr als alles, was wir darauf lesen und sehen können.

Der Umstand, dass für die Menschen der Moderne die Vermehrung von Optionen, Reichweiten und Kontakten zum kategorischen Imperativ des Handelns geworden ist, ist aber nur die kulturelle Seite des systemischen ökonomischen Zwangs zu stetigem Wachstum, zu Beschleunigung und unablässiger Innovation. Moderne Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermögen: Sie müssen von Jahr zu Jahr wachsen, beschleunigen und Innovationsleistungen steigern, um ihre Struktur zu erhalten und den Status quo zu reproduzieren.

Ökonomisch ist dieser Steigerungszwang in der einfachen Formel von Geld-Ware-Geld, kurz G-W-G, begründet: Geld wird nur investiert, ja es kommt überhaupt nur in die Welt unter der Schuld, dem Versprechen und der Verpflichtung, mehr Geld daraus zu machen, einen Gewinn oder Profit zu erzielen. Hört die Wirtschaft auf zu wachsen, verliert sie Arbeitsplätze, schließen Firmen, steigen die Arbeitslosenzahlen, sinken Steuereinnahmen, steigen aber Sozialausgaben, was zu einer Haushalts- und dann zu einer Staatsschuldenkrise führt, an deren Ende das politische System delegitimiert erscheint. So lautet die im Angesicht der weltweiten Finanzkrisen überaus einsichtig gewordene Kurzformel des modernen kapitalistischen Steigerungszwangs.

Die Weltmöglichkeiten eskalieren

Dies aber bedeutet: Sowohl aus systemischer Notwendigkeit als auch aus kultureller Begehrlichkeit ist die Moderne unmittelbar auf Steigerung hin angelegt. Und so sind wir seit 250 Jahren außerordentlich erfolgreich dabei, unsere Weltmöglichkeiten zu eskalieren: Der durchschnittliche mitteleuropäische Haushalt beherbergt inzwischen gut zehntausend Objekte, nachdem es um 1900 nur etwa vierhundert waren, das Wirtschaftsvolumen in Deutschland ist allein im mageren vergangenen Jahr etwa um das Gesamtprodukt des Kaiserreiches gestiegen, und mittels moderner Kommunikationstechnologien haben sich unsere Kontakte und unsere Handlungs- oder Erlebnismöglichkeiten um ein Vielfaches multipliziert.

Dies gilt nicht nur für finanzkräftige Eliten, sondern bis weit hinab auf der Verteilungsachse. Indessen verschärft diese Steigerungsorientierung neben der ökologischen die Zeitkrise der Gesellschaft unaufhaltsam. Denn Zeit ist die eine Ressource, die sich nicht vermehren lässt, die nicht wachsen kann, die wir aber für alle Tätigkeiten benötigen. Wir können Güter und Waren vermehren, Kontakte vervielfältigen, Optionen ins Unermessliche steigern – aber wir müssen alle diese Optionen, Kontakte und Güter auf die 24 Stunden am Tag oder die 365 Tage im Jahr verteilen, die uns invariant zur Verfügung stehen. Zeit lässt sich nur verdichten – deshalb ist sie der knappste aller Rohstoffe in der Spätmoderne: Anders als etwa das Öl können wir sie durch nichts anderes ersetzen. Daraus resultiert die Zeitnot der Moderne.

Das falsche Versprechen Zeit zu sparen

Eben deshalb tritt uns fast jede technische Innovation mit einer doppelten Verheißung entgegen: Der PC wie das Smartphone, ja selbst der Bankautomat, die Mikrowelle oder die Fernbedienung versprechen uns unisono, nicht nur mehr Welt in Reichweite zu bringen, sondern dabei auch Zeit zu sparen. Es gibt kaum eine moderne Technologie, die keine Beschleunigungstechnologie wäre. Auch das Navi, der Haartrockner, die Geschirrspülmaschine oder der Rasenmäher verheißen uns die Einsparung der so dringend benötigten Zeitressourcen. Unter der Hand verwandeln sich jedoch insbesondere die Kommunikationstechnologien immer wieder in Zeitfresser, weil wir von der mit ihnen einhergehenden Vergrößerung der Weltreichweite gleichsam überrollt werden: Weil sie uns mehr Welt erschließen und erreichbar machen, verringert sich die Zeit, die wir für einen Weltausschnitt, für eine Weltbegegnung zur Verfügung haben.

Wir können uns dies an nahezu jedem beliebigen Segment des modernen Lebens vor Augen führen. Nehmen wir die Musik. Bis zur Erfindung der Schallplatte konnten wir nur hören, was jemand live in unserer fußläufigen Reichweite spielte. Die Schallplatte machte uns dann einen großen akustischen Weltausschnitt verfügbar – der allerdings durch den Preis der Tonträger und des Grammofons tendenziell limitiert wurde. Inzwischen ist der Preis für die technische Verfügbarkeit gesunken, er ist geradezu im Verfall begriffen: Wir können uns das Gesamtwerk Beethovens, Mozarts oder Pink Floyds für einen Anteil des Monatslohnes verfügbar machen, für den wir noch vor wenigen Jahrzehnten allenfalls eine Tonaufnahme hätten erstehen können. Was uns nun daran hindert, all diese Musik zu hören, ist die fehlende Zeit: Es dauert zu lange.

Nie endende To-do-Listen

Mit Diensten wie YouTube und Spotify wird tendenziell der gesamte Reichtum der aufgenommenen Musikwelt fast zum Nulltarif zugänglich gemacht, er wird damit zum unerhörten Luxus, weil es unmöglich ist, den unter Verfügungsgewalt gebrachten akustischen Weltausschnitt auch nur zu einem signifikanten Bruchteil wirklich anzuhören, geschweige denn, ihn uns produktiv anzuverwandeln. Das hat gravierende Konsequenzen für die Art und Weise unseres In-der-Welt-Seins: Stets übersteigt das Maß dessen, was man von uns erwarten kann und was wir tun wollen – also unsere To-do-Liste – unsere zur Verfügung stehenden Zeitressourcen.

Was sich daher prinzipiell nicht mehr einstellt ist jenes Weltverhältnis, das durch den Begriff der Muße bezeichnet wird und am besten im deutschen Feierabend zum Ausdruck kommt: Muße ist die Haltung, die wir annehmen, wenn das Tagwerk vollbracht ist, wenn es keine legitimen sozialen Erwartungen an uns mehr gibt und wenn wir selbst keine aufgeschobenen Erwartungen mehr haben, sodass wir uns ganz der je gegenwärtigen Welt hingeben können. In diesen Zustand gelangen wir nie: Immer stehen dringende Einträge auf der To-do-Liste, und selbst wenn wir entscheiden, sie nicht mehr weiter abzuarbeiten, bedenken wir, dass Zeit Bildung ist: Dass wir wieder einmal Nachrichten sehen oder Faust lesen sollten, dass Zeit Beziehungen sind und wir seit Langem unsere Tante oder Bekannte anrufen wollten, dass Zeit Gesundheit und Fitness ist und wir eigentlich joggen oder wenigstens meditieren könnten.

Künstlich verarmen um zu entschleunigen

Muße ist daher zu einem unerhörten Luxus geworden – den wir uns nur selten einmal leisten: Dann nämlich, wenn wir für drei Wochen hinter Klostermauern verschwinden oder uns auf eine einsame Berghütte zurückziehen, wo es kein Internet, kein Handynetz, nicht einmal einen Fernseher gibt und wo schnelle Verkehrsverbindungen fern und zeitweise unerreichbar scheinen. Ich leiste mir das jetzt, diesen Luxus, sagen wir dann – und haben ein schlechtes Gewissen wie Webers Protestanten, wenn sie sich materiellen Luxus erlaubten. Anders als jene müssen wir ihn allerdings schon irdisch wieder büßen: Dann nämlich, wenn wir in den Alltag zurückkehren und die To-do-Liste ins Unabsehbare gewachsen ist.

Dabei ist das, was uns als unerhörter Luxus erscheint, im Grunde nur künstliche Verarmung, Deprivation: Wir machen uns zeitreich, indem wir uns weltarm machen; wir haben in der Berghütte nach Sonnenuntergang eben nur einen winzigen Weltausschnitt in Reichweite.

HARTMUT ROSA, lehrt Soziologie in Jena. Sein Spezialthema: Die Beschleunigung der Gegenwart und ihre Folgen für den Menschen.

Der Artikel ist erschienen in der Ausgabe zeozwei 2/2015. Gerne können Sie den Artikel auf unserer Facebook-Seite diskutieren.