Der Boom der Waldpädagogik : Lerne wild und gefährlich
Der Wald soll naturentwöhnten Stadtkindern Kreativität und Lebensfreude schenken. Eine Erkundung.
DEUTSCHLAND zeo2 | Diese Maus, die unter dem Laub raschelt, entpuppt sich als sechsjähriger Junge, krabbelnd, schnüffelnd, husch ist er weg. Diese Efeuranken, die sich um den Baumstamm schmiegen, sind die Arme eines Mädchens unter dicht gewirktem Blätterkleid. Ein vorsichtiger Kuss auf die Rinde, Harzgeschmack.
Im Klassenzimmer Wald geht es anders zu als in den Grundschulen der großen Stadt. „Unser Ansatz ist es, den Kindern die Natur vor allem gefühlsmäßig nahezubringen“, erklärt Waldpädagogin Armgard Wittich von der Waldschule Bogensee, nördlich von Berlin. „Das bedeutet: Waldbegegnung mit allen Sinnen“. Der Gesang der Vögel, das Aroma der Steinpilze, der Geschmack der Heidelbeeren, das kitzlige Krabbeln der Ameisen. Und: sich als Mensch zurücknehmen, aufnehmen, zuhören, über die Sinneskanäle die Verbindung mit der Natur herstellen und spielerisch mit ihr verschmelzen. Egal, ob Sommer oder Winter.
Waldschulen und Waldkindergärten gibt es in ganz Deutschland – zum Teil schon seit einem halben Jahrhundert. Die Schulen sind Anlaufstellen für Schülergruppen, die hier zu Besuch kommen; Waldschulen finden sich als Tagesangebot in Baden-Würrtemberg, Berlin, Brandenburg und Mecklenburg- Vorpommern. Es sind sind sogenannte „außerschulische Lernorte“, die meist von privaten Bildungsträgern angeboten werden. Früher waren Waldschulen ein Angebot der Forstämter, bis der Rotstift ihre Ausgliederung und Privatisierung verlangte.
Aber noch heute stimmen sie sich inhaltlich mit den Förstern ab. „Waldkindergärten sind dagegen Kindergärten oder Horte, bei denen die Kinder das ganze Jahr im Wald verbringen“, erklärt Ute Schulte Ostermann, Vorsitzende des Bundesverbandes der Natur- und Waldkindergärten (BvNW). Die Nachfrage ist groß: „Die Kinder finden hier ihr eigenes großes Revier“, so Schulte Ostermann. Anders als in den zunehmend beengten staatlichen Kindergärten: Durch das Recht auf einen Kindergartenplatz seien diese zuletzt oft auf Größen bis weit über 100 Kindern angewachsen, erklärt die Fachfrau. Gemeinsam ist Schule und Kindergarten: der Bezugspunkt „Wald“.
Leih-Waldschulranzen und Kindergeburtstag
„Neulich sagte ein Kind: Das war der schönste Wandertag in meinem Leben“, berichtet Carola Fabian von der Berliner Waldschule Plänterwald. Der Wunsch von Schülern, in den Wald zurückzukommen, ist für die Pädagogen Beweis für den Erfolg ihrer Arbeit. Sie sind keine Lehrer, gehören nicht dem staatlichen Schuldienst an.
„Unser Ziel ist es, jedes der 150.000 Grundschulkinder in Berlin in der Schulzeit von sechs Jahren mindestens einmal in eine Waldschule zu holen“, sagt Armgard Wittich. Derzeit gelingt das bei rund 30.000 bis 35.000 Kindern. Die acht Waldschulen in Berlin sind gefragt und oft auf vier Monate ausgebucht. Die Hälfte von ihnen wird vom Infrastrukturellen Netzwerk Umweltschutz (IN U) getragen, die übrigen vom Verein „Jugend in Berliner Wäldern“, der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband. Ein Waldtag kostet 2,50 Euro pro Kind, einen Leih-Waldschulranzen gibt es für 10 Euro, der Kindergeburtstag unter Bäumen kann ab 100 Euro gebucht werden.
Das pädagogische Programm deckt alles ab; vom Schnitzworkshop „Messerscharfer Nachmittag“ über die Survivalnacht im Wald, Fledermauswanderung bis zur GPS-Rallye für Familien. Ein Besuch im Wildgatter des Spandauer Forstes beantwortet die Frage: „Hörner und Geweihe sind doch das Gleiche, oder?“ Seit Frühjahr wird die mobile „Rucksackwaldschule“ angeboten. „Dann sind die Kinder vier Stunden lang unterwegs im Wald“, erläutert Armgard Wittich.
Die Konzepte der Waldschulen variieren in den Bundesländern. Brandenburg verfolgt die Idee der „Erlebniswelten“: Einzelne Waldschulen haben sich auf bestimmte Themen spezialisiert und wollen sie zu „Walderlebniswelten“ weiterentwickeln. In Briesetal im Landkreis Barnim steht der Biber im Mittelpunkt, in Müllrose an der polnischen Grenze die Rote Waldameise, in Königs- Wusterhausen südlich von Berlin ist es die Biene und in Cottbus der Wolf. Die Erlebniswelten bestehen aus zwei Komponenten, wie der Brandenburger Waldpädagoge Klaus Radestock erläutert: einem thematischen Walderlebnisweg draußen im Wald und einem festen „Stützpunkt“, wo das Thema werkelnd bearbeitet werden kann – bis in den Kochtopf hinein, als „Waldküche“.
Die Wissenslücken sind beträchtlich
Waldbildung tut Not. In einer Umfrage für das Projekt „Mensch und Wald“ des Bundesbildungsministeriums hat Silke Kleinhückelkotten vom Ecolog-Institut in Hannover festgestellt: „Das romantische Bild vom Wald, diese emotionale Nähe, ist nicht überall in der Gesellschaft so verhaftet wie bisher angenommen“. Wissenslücken sind bei vielen Menschen beträchtlich.
„Dass Bäume Sauerstoff liefern, Luft filtern oder Tier- und Pflanzenarten beherbergen, ist nur einem Drittel der Befragten bekannt«, bilanziert sie die Studie. 78 Prozent gaben zu, nur wenig über die Arbeit der Förster zu wissen. Besonders schwer erreichbar sind nach der Ecolog-Erhebung die Jugendlichen. Rund 80 Prozent der befragten Heranwachsenden zeigten »eine große Distanz und eine Entfremdung in Bezug auf den Wald“, so die Expertin in Sachen Nachhaltigkeits-Kommunikation. Ihr Fazit: Die forstliche Umweltbildung muss stärker auf einzelne Zielgruppen ausgerichtet werden.
Das kann nur gelingen, wenn das Umfeld mitspielt. Doch in Baden-Württemberg leiden die acht Waldschulen unter staatlich verordneter Schulzeitverkürzung, das „G-8-Abitur“. Nicole Fürmann, Landesgeschäftsführerin der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, die die Waldschulen zusammen mit den Landesforsten betreibt, hat seit Einführung des „Turbo- Abiturs“ einen massiven Einbruch festgestellt: „Die Teilnahme älterer Schüler ist praktisch zum Erliegen gekommen“.
Das Büffeln für die Prüfung lässt für den Besuch von Wildgetier keine Zeit mehr. Gut ist nach wie vor die Beteiligung der Grundschulen und der Kindergärten. Allein das „Haus des Waldes“ in Stuttgart mit seinen 15 festangestellten Fachkräften, darunter einige aus dem Schuldienst abgestellte Lehrer, und an die hundert Ehrenamtler, zählt pro Jahr zwischen 30.000 und 40.000 Schüler.
Käfer und glitschige Pilze
Im Wald angekommen, funktioniert die Faszination. Die Kinder bauen im Stuttgarter Forst ihr „Waldsofa“ aus Stöcken und Moosen, die auf der Pirsch gesammelt wurden. „Igitt, da sind ja Käfer dran!“, entfährt es dem einen Stadt-Kind, das andere ekelt sich vor den glitschigen Pilzen. Die Wald- Lehrer besänftigen, erklären, helfen zu begreifen und drehen Abwehr in Interesse um. Schulunterricht soll es nicht sein. „Aber wir würden uns“, gesteht Waldexpertin Fürmann „von den Schulen manchmal mehr Unterstützung bei der Vor- und Nachbereitung im Unterricht wünschen“. Während die Zahl der Waldschulen stagniert, sind die Waldkindergärten auf dem Vormarsch.
Waldschulen gibt es schon seit den frühen Nachkriegsjahren, die Kindergärten im Wald sind deutlich jünger. In Deutschland wurde der erste private Waldkindergarten 1968 in Wiesbaden gegründet, der erste Waldkindergarten mit staatlicher Anerkennung startete 1993 in Flensburg und löste eine Gründungswelle aus, wie der Bundesverband der Natur- und Waldkindergärten deutlich macht: Inzwischen gibt es nach Schätzung des Verbandes in Deutschland 1.500 Natur- und Waldkindergärten, 400 bis 500 Natur- und Waldkindergartengruppen sowie viele Hauskindergärten mit Waldtagen und Waldwochen – „und damit ist die Nachfrage noch lange nicht gedeckt“. Zu einem Verband wie bei den Kindergärten haben es die Waldschulen in Deutschland bis heute nicht gebracht. Auch deshalb gibt es keine „amtliche“ Statistik über die Anzahl der Waldschulen.
Waldpädagogik ist mehr als nur ein alternativer Öko-Lehrplan. Viel wichtiger ist, welche Rolle Wald und natürliche Wildnis für die kindliche Psyche und die Gehirnentwicklung spielen. Auf ein grassierendes „Natur-Defizit-Syndrom“ unter der heutigen Jugend hatte der amerikanische Autor Richard Louv in seinem Bestseller „Das letzte Kind im Wald“ hingewiesen: Kinder büßten ihre Kreativität ein, würden um Lebensfreude betrogen; funktionierten im Sinne der Gesellschaft, aber der Erfindergeist, der sich im frei verfügbaren Spielzeug des Waldes ausdrücken kann, verkümmere. Und zurück blieben Kinder, die mit den Spielzeug-Prothesen in der gut geheizten elterlichen Wohnung vorlieb nehmen müssten.
Die Berliner Umweltund Wirtschaftsjournalistin Ulrike Fokken stellt in ihrem Buch „Wildnis wagen. Warum Natur glücklich macht“ heraus, dass selbst in der Wirtschaft die Klage wachse, dass immer weniger junge Menschen in der Lage seien, „konzentriert und sozial verträglich zu arbeiten, ganz gleich, ob sie die Schule mit dem Hauptschulabschluss oder dem Abitur verlassen“. Die Schuld für die „verlotternden Denkfähigkeiten“ sehen Lehrer, Eltern und Neurologen oft im „übermäßigen Konsum elektronischer Medien“.
Wildnis und Abenteuer
Die künstlichen Welten auf dem Bildschirm entfalteten eine Suchtwirkung, die gerade junge Menschen davon abhält, sinnliche Erfahrungen zu machen. Erfahrungen, wie Fokken schreibt, „die das Gehirn anregen, aus den Erlebnissen zu lernen und so das Gehirn für ein kreatives und soziales Leben aufzubauen“.
Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Ulrich Gebhard hat über den Einfluss der natürlichen Umwelt auf die frühe Persönlichkeitsbildung jahrelang geforscht und dazu ein Standardwerk verfasst („Kind und Natur. Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung“). „Der psychische Wert von Natur besteht in ihrem eigentümlichen, ambivalenten Doppelcharakter“, erklärt Gebhard. „Sie vermittelt die Erfahrung von Kontinuität und damit Sicherheit und zugleich ist sie immer wieder neu“. Für die Kinder sei das zentrale Motiv ihres Spieles in der Natur „die Unkontrolliertheit und das subjektive Gefühl von Freiheit“. Gebhard: „Kinder können in der Natur freizügig spielen, sind zugleich relativ aufgehoben und können zudem Bedürfnissen nach ›Wildnis‹ und Abenteuer nachgehen“. Womöglich auch ein leises Plädoyer gegen allzu viel Pädagogik im Land der Bäume.
Es muss noch wilder werden, ist die Überzeugung von Wolfgang Pehan, der in Hannover die „Wildnisschule Wildniswissen“ gegründet hat. „Wildnispädagogik hat mit Waldpädagogik nicht sehr viel zu tun“, stellt Pehan klar. Die deutschen Förster seien gehalten, für ihren Bereich Umweltbildung zu betreiben, um die Akzeptanz für den Wald als Holzfabrik zu sichern, sagt Pehan. Die Wildnispädagogik komme aus einer anderen Richtung. „Wir knüpfen an die alten Jäger- und Sammlerkulturen an“, erläutert der Pädagoge, ein tiefsitzendes Menschheitserbe, das in den Wildnisschulen erfahrbar gemacht wird.
Naturwissen erfahren, etwa durch Erkennen der Tierfährten, Aufmerksamkeit ausbilden, Grob- und Feinmotorik entwickeln durch Feuermachen und Tipi-Bau aus natürlichen Materialien. Aber auch die soziale Kompetenz durch Stärkung des Wir- Gefühls in der Gruppen zu fördern – das sind die zentralen Elemente der Wildnispädagogik. Sie fußen auf dem amerikanischen Konzept des „Coyote Teaching“, das indianische Erfahrungen einer tieferen Verbindung zur Natur für den modernen Menschen nutzbar machen will.
Mehr als die florierende Holzfabrik
Nicole Fürmann von der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald und Vertreterin der klassischen Walderziehung sieht im Wildnis-Ansatz aber auch die Chance, die verloren gegangene Generation der Jugendlichen auf neue Weise zu erreichen. „Ab einem bestimmten Alter ist der Wald für Jugendliche ausgesprochen uncool“, hat die Leiterin des Stuttgarter Wald-Hauses festgestellt. „Aber im Freien zu schlafen, Feuer zu machen, im Wald auf sich gestellt zu sein, das ist für pubertierende Jugendliche ideal“. So müssten die Jungendlichen viel stärker „dort abgeholt werden, wo ihre Interessen liegen“.
Der Wald steht schwarz und schweiget. Ein Drittel der Fläche Deutschlands wird von Bäumen bedeckt. Was den einen florierende Holzfabrik ist, den anderen Öko-Heiligtum und Opfer des Klimawandels, ist für die Pädagogen eine der interessantesten Bildungsstätten für Kinder. Bisher wird der Wald viel zu wenig genutzt und führt ein pädagogisches Schattendasein. Aber Schatten gehört ja auch zum Wald.
Manfred Ronzheimer, der Artikel ist erschienen in der Ausgabe zeo2 1/2015. Den Artikel können Sie gerne auf unserer Facebook-Seite diskutieren.