STADTPLANUNG : Umsatz steigern
Ganz Berlin ist von Discounter besetzt. Ganz Berlin? Es gibt ein kleines Gebiet in Schöneberg, in dem die Versorgungslage bedenklich ist: die Rote Insel. Nach Büroschluss sind im einzigen Supermarkt noch drei Kassen geöffnet. Als Neuinsulaner trifft man schon beim zweiten Besuch dieselben Gesichter: den Sachbearbeiter, der noch eine Flasche Tempranillo holt, die Mutter mit Kind, die Bionudeln aufs Band hievt, und eine Studentin aus Italien mit einem ekligen Wurstsalat („Formfleischstücke“).
Während es in der Schlange nur quälend langsam vorangeht, versucht man sich die Vorteile des Viertels – die man vor ein paar Wochen im Kreise der Freunde („Warum ziehst du aus dem hippen Neukölln nach … Rote … was?“) wie eine Standarte vor sich trug – wieder ins Gedächtnis zu rufen. Vergeblich! Die drei, vier – je nach Zählweise – fünf langen Parallelstraßen, unterbrochen nur von kurzen Durchstichen und eingezwängt zwischen zwei Bahntrassen bilden eine triste Altbauödnis. Weder ein szenetypischer Mix aus Wohnzimmermöbelbars und Off-Galerien noch Werbeagenturen locken. Man könnte meinen, perverse Stadtplaner hätte ein übrig gebliebenes Stück Steglitz hierher verpflanzt.
Zu allem Überfluss steht plötzlich die Hasenfrau neben mir. Sie war mir schon beim letzten Einkauf aufgefallen. Als sei es das Normalste der Welt, spaziert sie mit einem riesigen Zwergkaninchen, das sie sich wie ein Kind vor die Brust hält, durchs Viertel. Würden Sie uns bitte vorlassen, wir haben nur ein paar Möhrchen, fragt die Hasenfrau und grinst synchron mit dem Nager, der in einem Frottee-Strampelanzug steckt. Ich nicke resigniert. Ein Trost bleibt: Dem Hörensagen nach soll Schwiegermütter-Liebling-Potsdam Günther Jauch bald seine neue Talkshow im Gasometerskelett produzieren. Der Tempranillo-Umsatz wird steigen. TIMO BERGER