: Eine fette Kröte küssen
SWITCH Gespenster auf Pilgerfahrt, Ruinen einer nie gebauten Welt: Nicht nur verschiedene Künste treffen im Filmfest Rencontres International aufeinander, sondern auch unterschiedliche Wirklichkeiten
VON SIMON ROTHÖHLER
Der Camino a Fisterra führt von Santiago de Compostela zum Kap Finisterre und gilt als extended version des Jakobswegs. In Sergio Caballeros Film „Finisterrae“ (2010), der dieses Jahr den Hauptpreis des Rotterdamer Filmfestivals gewann, sind es zwei russisch sprechende Gespenster, die sich auf den traditionsreichen Pilgerweg begeben. Die beiden notdürftig kostümierten Bettlakengestalten sind ihrer halb jenseitigen Existenz überdrüssig und konsultieren deshalb ein Orakel, das den Namen eines berühmten französischen Regisseurs trägt.
Ein Feuerkreis wird entzündet, und jemand legt „Janitor of Lunacy“ von Niko auf. Auf die rituelle Kommunikation folgt ein Road Movie der sehr anderen Art, das fröhlich mäandert zwischen „Ritter der Kokosnuss“ und „Das siebente Siegel“, höherem Blödsinn und metaphysischen Durchsagen. Am Ende gewinnt der Low-Budget-Sarkasmus: Eine fette Kröte wird geküsst, und ein Hirsch schreitet gemessenen Schrittes durch die Zimmerfluchten eines Schlosses.
Ein reisendes Festival
Zu sehen ist dieser ziemlich schräge Debütfilm des Musikers und Sonar-Kodirektors Caballero auf dem Festival „Recontres Internationales“, das zwischen Berlin, Paris und Madrid zirkuliert. Die Schau gastiert diese Woche im Haus der Kulturen und widmet sich relativ frei von kuratorischen Dogmen experimentellen Filmarbeiten. Ob die dabei abgebildeten Autorenpositionen nun im traditionellen Sinn aus dem Kino kommen, wie Pedro Costa, Jean-Marie Straub, Thomas Heise, Ken Jacobs oder, wie im Fall von Ange Leccia, Mark Lewis und Caballero, eher aus benachbarten Kunstfeldern, wird hier programmatisch nachrangig behandelt.
Dem Festival geht es sympathischerweise weniger um eine Abgrenzung der Kontexte „Kunst“ vs. „Kino“. Nicht die mittlerweile sattsam ausgeleuchteten institutionellen, produktionsökonomischen, dispositivischen Differenzen stehen im Zentrum, sondern die Auslotung eines geteilten Raums, in dem avancierte Bewegtbildproduktionen Schnittmengen bilden können, ob sie nun installativ in einem „Videoparcours“ oder im Kinosaal als klassische Projektion aufgeführt werden. Etliche Arbeiten sind im weitesten Sinn Landschaftsfilme, die sich in Grenzbereichen des Noch-Nicht- oder Schon-Wieder-Narrativen aufhalten. Räume werden zu Handlungsträgern; Erzählfragmente geistern durch die Bilder, ohne sich in konventionelles Erzählkino zu verfestigen.
Das gilt auch für einen absoluten Höhepunkt des Festivals, Ange Leccias „Nuit bleue“ (2009). Eine junge Frau (Cécile Cassel) kehrt in ihre Heimat, nach Korsika, zurück, angetrieben durch den rätselhaften Tod eines jungen Mannes, der im Meer ertrunken ist. Die felsige Halbinsel Cap Corse sieht in diesem Film stellenweise wie Stromboli bei Rossellini aus. Es ist eine abweisende Welt, in der wortkarge Männer geheime Zeichen und Gesten eines korsischen Separatismus austauschen, lokalspezifische Liturgien a cappella singen, im Licht von Lkw-Scheinwerfern Fußball spielen und für den Befreiungskampf üben.
Leccia arbeitet eigene Videoarbeiten wie „La mer“ (1991) in dieses grandios komponierte Ton-Bild-Geflecht ein, das sich auf der Folie von Eugène Delacroix’ Gemälde „La Barque de Dante“ aufbaut. Über allem schweben Synthesizerorgeln, und Serge Gainsbourg singt mit Anna Karina „Ne dis rien“.
Eisberg, hyperrealistisch
Eine Art Parallelfilm zu Jean-Luc Godards „Film Socialisme“ hat der Belgier Hans Op de Beeck mit „Sea of Tranquility“ (2010) gedreht. Der Film spielt auf einem digital konstruierten Luxusdampfer. Der notorische Eisberg ist als riesige Installation gleich in das Schiffsdesign integriert. Im Bauch dieser remodellierten „Queen Mary 2“ herrschen Dekadenz und Ennui; auch Schönheitsoperationen an Schlupflidern dürfen hier nicht fehlen. Wie bei vielen anderen Arbeiten aus dem kunstnahen Feld ist hochaufgelöstes Video die Bildtechnologie der Wahl. Plansequenzästhetiken unterstreichen den bewusst verfremdenden Umgang mit den hyperrealistischen Effekten von HD.
Knut Åsdams „Tripoli“ (2011) ist an diesem tendenziell skulpturalen Umgang mit aufwendig gestalteten Räumen und vorproduzierten Objekten hingegen weniger interessiert. „Tripoli“ misst eine vorgefundene Architekturlandschaft aus, deren Autor Oscar Niemeyer war. Der brasilianische Architekt, maßgeblicher Mitgestalter der Planhauptstadt Brasília, hatte in den späten 60er Jahren ein Messegelände im nordlibanesischen Tripoli entworfen, dessen Fertigstellung durch den Bürgerkrieg 1975 verhindert wurde. In Åsdams fluid montiertem Film erscheint die Ruine als Monument einer gewaltsam unterbrochenen Modernisierung. Die Leichen im Untergrund der Anlage sind zwar Produkte einer kriminalistischen Fiktion, zeugen aber zugleich von der Realität historischer Schichtungen, die Åsdam nicht erfindet, sondern beiläufig freilegt.
■ Rencontres Internationales 28. Juni bis 4. Juli 2011, Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, www.art-action.org/