: Die Zeichnung der Zeit
KUNST Klassische Figuration, subjektive Ortsvermessungen und schöne Strichführungen in souveräner Eleganz – in zwei aktuellen Ausstellungen in Pankow werden die reichen Möglichkeiten der Zeichnung ausgemessen
VON RONALD BERG
Der Zufall wollte es, dass im Bezirk Pankow zeitgleich zwei thematisch sehr ähnliche Ausstellungen stattfinden. Beide laufen in kommunalen Galerien – in der Galerie Pankow und in der Galerie Parterre –, beide widmen sich der Zeichnung.
In der Galerie Pankow heißt die Schau, Gertrude Steins berühmten Satz „A rose is a rose is a rose“ noch einmal ausweitend, „Eine Linie ist eine Linie ist eine Linie ist eine Linie“. Der lange Titel ist offenbar mehr als zweideutig gemeint. Die gezeichnete Linie ist eben nicht nur ein Strich, sie ist zugleich ein Zeichen und natürlich immer auch eine Spur der ausführenden Hand, die sie aufs Papier brachte.
Welch schier unerschöpfliche Möglichkeiten die Zeichnung bietet, zeigen die 16 ausschließlich weiblichen Künstler in der Galerie Pankow. Dass hier (ebenso zufällig?) nur Frauen zu sehen sind, hat keine tiefere Bedeutung. Dass es sich ausschließlich um Berliner Künstlerinnen handelt, ist allerdings dem Selbstverständnis der Galerie als kommunaler Einrichtung geschuldet. Die Auswahl von Annette Tietz, Leiterin der Galerie, und Anke Paula Böttcher erfolgte frei nach Schnauze und will den „aktuellen Positionen der Zeichnung“ einfach „mehr Aufmerksamkeit verschaffen“.
Noch mehr Aufmerksamkeit?, könnte man fragen. Die Zeichnung ist ja bei vielen Künstlern und Künstlerinnen längst nicht mehr nur dienendes Mittel zur Vorbereitung, sondern Ausdruck sui generis. Die 16 Positionen in der Galerie Pankow markieren das weite Feld dessen, was mit und in der Zeichnung derzeit möglich ist.
Da gibt es die klassische Figuration von Kerstin Grimm. Hauptmotiv sind offenbar Kindheitserinnerungen, wobei die kindlichen Figuren mit allerlei technischen Gerätschaften und Tiergestalten collagiert werden. Eine eher düster, traumatische Atmosphäre entsteht. Völlig anders arbeitet Pia Linz bei ihren Topologien von Gärten, die sie einem eigenen System folgend vor Ort zeichnet und mit Anmerkungen versieht. Das Ergebnis hat eine buchstäblich ganz subjektive Perspektive, zentriert auf den Sitzplatz, von dem Linz ihre Umgebung aufgezeichnet hat.
Die Zeichnung als unmittelbares Medium scheint für solche subjektiven, ja idiosynkratischen Ansätze prädestiniert. Jorinde Voigt etwa übersetzt ihre Lektüre von C. G. Jung in eine Art Diagramm, bei dem Flächen und Linienverbindungen Beziehungen visualisieren. Ihr zweieinhalb Meter breites Sinnbild über die „Auflösung des Bewusstseins“ prunkt geradezu mit einer großen goldenen und spindelartigen Fläche, die das Bild dominiert. Das kunstgeschichtlich so vielsagende Gold mit seinen Ausläufern und Satelliten im Bild bietet reichlichen Anreiz, über Rolle und Gestalt von Bewusstsein, Unbewusstem und Transzendenten zu spekulieren.
Unbewusstes mag auch die Zeichnungen von Hanna Hennenkemper motivieren. Alltagsdinge wie Zange, Kleiderhaken oder Anspitzer geraten bei ihr in den Ruch eines „Widerständigen Dinges“, das zugleich sexuelle Konnotationen wachruft.
Die Zeichnung dient vielfach aber auch einfach dazu, etwas zu notieren, das sonst nicht sichtbar ist. Töne etwa, von denen die Physik als Wellenerscheinungen spricht. Chiyoko Szlavnics, zugleich Musikerin, zeichnet Wellenbilder in leicht bewegten Rhythmen, während Inken Reinert komplizierte Strich- und Wellenloops auf die Buchseiten einer italienischen Phonetik bringt. Ihre „Silent Language“ scheint die Schwierigkeiten der Zunge bei der Intonation fremder Sprachlaute wiederzugeben.
Systemisch nach eigenen Regeln, akribisch in der Darstellung und forschend im unbegrifflichen Terrain arbeiten viele der Zeichnerinnen. Juliane Laitzsch etwa geht mit dem Zeichenstift gleichsam die Fäden altehrwürdiger Stoffreliquien nach und wiederholt mit anderen Mitteln die Penelope- oder Arachne-Arbeit des Webens. Das seit alters her der Frau zugedachte Handwerk des Webens scheint heute vielfach im Zeichnen seine Fortsetzung zu finden. Die Verflechtungen und Verknüpfungen zwischen Faden und Linie sind jedenfalls bei Laitzsch – nicht nur metaphorisch – schon im Stoff angelegt.
Auch gewollt Ungelenkes
Die Parallel-Ausstellung in der Galerie Parterre zeigt nun allerdings, dass auch Männer das Zeichnen nicht verschmähen. Von den elf Künstlern dort sind immerhin neun männlich. Die beiden in der „Zeichnung der Gegenwart“ geheißenen Schau präsentierten Frauen sind dann zugleich auch bei der „Linie“-Ausstellung vertreten.
Neben Pia Linz ist das Nanne Meyer, was nicht nur daran liegen dürfte, dass die 1953 in Hamburg geborene Künstlerin seit 1994 im Bezirk, an der Kunsthochschule Weißensee, Professorin ist. Nanne Meyer hat von allen ZeichnerInnen so etwas wie den schönsten Strich. Auffällig wird das in der Galerie Parterre deshalb, weil hier doch einige ziemlich zerquälte, gewollt ungelenke und abgründige Zeichnungen zu sehen sind: Rolf Lindemann mischt DDR-Tristesse mit Badefreuden, Horst Hussel nimmt deutlich Anleihen an der Art brut, Hans Baschang und Jens Elgner machen Gekrakel – der eine dichter, der andere lichter.
Daneben strahlt Meyers Serie zum „Berliner Ensemble“ in souveräner Eleganz und Formenreichtum, bietet Doppelbödiges und Mehrdeutiges zwischen Abstraktion und Figuration. Warum Meyers Strich aber so schön ist, das bleibt ein Rätsel.
■ „Eine Linie …“: Galerie Pankow, Breite Str. 8, Di–Fr 12–20 Uhr, Sa./So. 14–20 Uhr. Bis 21. September
■ „Zeichnung der Gegenwart“: Galerie Parterre, Danziger Straße 101, Mi.–So. 13–21 Uhr. Bis 21. September