: Eine halbe Million Staatsfeinde
KONTINUITÄT Die Dokumentation „Verboten – Verfolgt – Vergessen“ widmet sich Oppositionellen, die in der Adenauerzeit politisch verfolgt wurden. Betroffen waren viele Linke und Gegner der Wiederbewaffnung
VON SONJA VOGEL
„Hier starb vor 60 Jahren Philipp Müller, von der Polizei ermordet.“ So steht es auf einem Transparent, das eine Gruppe von DemonstrantInnen in Essen in die Kamera hält. Es ist der 11. Mai 2012. Ein alter Herr mit Schiebermütze erinnert sich, wie die Polizei damals gegen eine Jugendkarawane vorging, die sich gegen die Wiederbewaffnung wandte und Müller erschoss. „Es kann nicht oft genug daran erinnert werden“, sagt er. „Denn wer weiß noch von dieser Geschichte?“
„Verboten – Verfolgt – Vergessen. Die Unterdrückung Andersdenkender in der Adenauerzeit“ heißt der Dokumentarfilm von Daniel Burkholz, der die Geschichte von Oppositionellen in Westdeutschland erzählt. Nach 1945 gab es dort eine pazifistische Strömung, die weit über die Linke hinausging. Viele demonstrierten gegen die von Konrad Adenauer vorangetriebene Remilitarisierung. Die Regierung reagierte schnell: Mit dem ersten Strafrechtsänderungsgesetz von 1951, auch Blitzgesetz genannt, wurde es möglich, GegnerInnen der Wiederbewaffnung kaltzustellen.
Die Strafrechtsänderung war ein Meilenstein für die Verfolgung politisch Missliebiger – der Adenauer’sche Antikommunismus folgte dabei ganz dem von den Nazis etablierten Schreckensbild. Allein zwischen 1951 und 1968 wurden etwa 200.000 Verfahren gegen Mitglieder der KPD und anderer linker Gruppen geführt. Rund 10.000 Menschen landeten im Gefängnis.
Die Dokumentation beleuchtet einige Schicksale und lässt die heute um die 80-Jährigen selbst erzählen. Interviewsequenzen wechseln mit Originalaufnahmen aus den Fünfzigern. Die Oppositionellen von damals sind noch heute ausnahmslos politisch aktiv. Fast alle sind sie KommunistInnen geblieben. Gerd Deumlich etwa wurde wegen seines Engagements für die westdeutsche Freie Deutsche Jugend (FDJ) zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt und zwölf Jahre lang in die Illegalität gedrängt. Vor Blumenbildern auf der Wohnzimmercouch sitzend erzählt er, dass er seit 1946 in der KPD aktiv gewesen sei, auch als Redakteur der illegalen Zeitung der schon 1951 verbotenen FDJ. „Als klar war, dass remilitarisiert werden soll, haben wir gesagt: Da darf man nicht mitmachen“, erzählt Deumlich. 1953 wurde er wegen Geheimbündelei und Staatsgefährdung angeklagt. „Das waren die Standardvorwürfe nach dem Strafrechtsänderungsgesetz.“
1956 folgte das Parteiverbot. „Die Illegalisierung der KPD führte zur weiteren Kriminalisierung von Kommunisten, aber auch von Antifaschisten, Sozialdemokraten und Kirchenleuten“, sagt der Rechtsanwalt Rolf Gössner. Die außerparlamentarische Opposition wurde aus dem öffentlichen Leben verbannt, durch Observationen und Berufsverbote an den Rand der Gesellschaft gedrängt. „Betroffen von diesen Maßnahmen waren mehr als ein halbe Millionen Menschen“, so Gössner. „Das sind unglaubliche Dimensionen.“
Auch Herbert Wils saß wegen seiner Arbeit in der KPD fünfeinhalb Jahre im Gefängnis. Seine Frau Ingrid saß neun Monate, acht Jahre lebte sie in der Illegalität. Der Film zeigt die beiden auf dem Ostermarsch in Dortmund. „Einheit für Deutschland unser Ruf, trotz Verbot, trotz Verrat“ singt Wils und schlägt energisch die Akkorde auf der Gitarre. Heute klingt das Lied harmlos. Damals bekam er dafür 18 Monate. Wegen „Staatsgefährdung“.
Dieser diffuse Vorwurf erlaubte der Staatsanwaltschaft jedwede Auslegung. Die Unterstellung des Vorsatzes, im Sinne der kommunistischen Sache zu handeln, reichte aus, um juristisch belangt zu werden. „So wurden Taten, die für den normalen Bürger nicht strafbar waren, strafbar, wenn sie von einem Kommunisten ausgeführt wurden“, erklärt Till Kössler von der Ruhr Universität Bochum – etwa der Besitz von Büchern aus der DDR.
Kössler verweist auf die „mentalen Kontinuitäten“, die in der Strafverfolgung wirkten. Vor dem Hintergrund des wirkmächtigen antikommunistischen Stereotyps ist es nicht verwunderlich, dass eine Entschuldigung bei den Justizopfern aussteht. Rosemarie Stiffel, die wegen ihrer Arbeit für den Deutschen Jugendring 19 Monate in Haft saß, kämpft bis heute für die Rehabilitierung der Verfolgten. In einer der letzten Filmsequenzen blättert die alte Dame in einem der Ordner, randvoll mit Informationen zu politischen Prozessen. Viele der Angeklagten sind mittlerweile verstorben. „Für sie wurde das Problem Rehabilitierung auf biologischem Weg gelöst“, sagt Stiffel.
■ „Verboten – Verfolgt – Vergessen“. Regie: Daniel Burkholz, Deutschland 2012, 42 Min. Premiere, heute, Freitag, 19 Uhr, Central Kino, inkl. Gespräch mit Zeitzeugen