: Restrisiko des Vergessens
TSCHERNOBYL ET AL. Atomkraftwerke sind sicher, klimafreundlich und ökonomisch effizient. Von wegen! Die Energielobby führt uns hinters Licht, sagt Gerd Rosenkranz in seinem Buch „Mythen der Atomkraft“
Alle 100.000 Jahre ein Unfall – wie schnell doch die Zeit vergeht!“ Das war der sarkastische Kommentar von Atomkraftgegnern, als 1979 eine partielle Kernschmelze im US-Meiler bei Harrisburg die Welt in Angst und Schrecken versetzte. Der damalige Hohn gegen vollmundige Sicherheitsversprechen der Atomindustrie ist heute aktueller denn je, findet der Journalist und Umweltexperte Gerd Rosenkranz. Mit seinem Buch „Mythen der Atomkraft“, das im oekom Verlag erschienen ist, kämpft er gegen das Restrisiko des Vergessens.
Einer dieser Mythen lautet: „Die Atomkraft ist sicher“. Hartnäckig halte die Atomlobby daran fest, obwohl in der über 50-jährigen Geschichte der friedlichen Kernkraftnutzung alle paar Jahre gefährliche Pannen an der Tagesordnung waren. Ein „Schreckschuss“ aus der jüngsten Vergangenheit: Forsmark, das schwedische AKW, das am 25. Juli 2006 nur knapp an einem GAU vorbeischlitterte. Eine eigentlich unspektakuläre technische Störung habe, so Rosenkranz, eine „regelrechte Kaskade“ weiterer Komplikationen ausgelöst, die große Teile des Reaktorsicherheitssystems lahmlegten. Der Name Forsmark stehe seither für den „brisantesten Unfall in einem europäischen Atomkraftwerk seit der Katastrophe von Tschernobyl“. Nur durch Glück sei es nicht zum Allerschlimmsten gekommen.
Dass es aber jederzeit schlimmer kommen könnte, macht der Autor an vielen Beispielen klar; etwa an ganz normalen Abnutzungserscheinungen, der zurzeit weltweit 437 Atomkraftwerke. „Das globale Reaktorarsenal altert“, schreibt der gelernte Werkstoffwissenschaftler. Wegen Materialschäden infolge hoher Temperaturen, enormer mechanischer Belastungen oder des Neutronendauerbeschusses aus der Kernspaltung seien Reaktoren per se ein Sicherheitsrisiko. In Deutschland werde dennoch gerade heftig über Laufzeitverlängerungen diskutiert. Hinzu kämen wirtschaftliche und politische Entwicklungen, die das Betreiben von Atomkraftwerken mehr als fragwürdig machten; zum Beispiel eine neue Gefahrenquelle, die nach dem 9. September 2001 als „electrical engineering“ bekannt wurde. Das war der Codename für einen Plan des Terroristen Mohammed Atta. Der Selbstmordattentäter hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, anstatt ins World Trade Center zu fliegen, das AKW Indian Point am Hudson River anzugreifen.
Rosenkranz’ Buch kommt zur richtigen Zeit. Während die Klimakatastrophe als Argument für die Kernkraft herhalten soll und die Regierungskoalition auf die „Brückenfunktion“ dieser Technik baut, macht Rosenkranz klar, warum der immer wieder kolportierte „breite Energiemix“ nicht funktioniert. Zu Weihnachten 2009 sei dies an der Strombörse in Leipzig erstmals deutlich geworden.
Die gesetzlich verordnete „Vorfahrt“ von Ökostrom und die kräftige Brise über Deutschland zu dieser Zeit hätten zu Überproduktion und damit zu einem Minus von bis zu 120 Euro pro Megawattstunde für Atomstrom geführt, erklärt Rosenkranz – ein teures Verlustgeschäft, das sich beim geplanten Ausbau der erneuerbaren Energien verschärfen wird. Und was ist mit dem Mythos vom Klimaschutz durch Kernkraft? Nach einer Schätzung der Enquetekommission des Bundestags aus dem Jahr 2002 sei ein CO2-freies Deutschland nur mit einem Arsenal von bis zu 80 neuen Atommeilern möglich.
In Anbetracht des großen Sicherheitsrisikos dieser Technik und den Milliarden von Steuergeldern, die dafür nötig wären und beim Ausbau von Ökoenergien fehlen würden, ist das für Rosenkranz eine völlig realitätsferne Option; genauso wie der Mythos vom sicheren Endlager. Dafür gäbe es „Keinen Ort – Nirgends“.AGNES STEINBAUER
■ Gerd Rosenkranz: „Mythen der Atomkraft“. oekom Verlag, München 2010, 109 S., 8,95 Euro