: Es ist so schön, von Proust zu hören
LITERATUR DIGITAL Ein Kongress im Haus der Kulturen der Welt setzte sich mit E-Books und Fragen der Autorschaft, des Lesens, Archivierens wie auch neuer verlegerischer Geschäftsmodelle im digitalen Zeitalter auseinander
VON SASCHA JOSUWEIT
Stellen Sie sich vor, Sie hätten Zeit. Einen Haufen Zeit. Zeit, den ganzen Proust zu lesen. Eine Vorstellung am Rand des Unmöglichen. Ich kenne viele sogenannte Buchmenschen, aber nur einen, der die komplette „Recherche“ gelesen hat, und zwar im Alter von 16, dann nie wieder.
Am 22. März war der Indiebookday 2014, an dem Leser aufgefordert sind, ein Buch eines unabhängigen Verlages zu erwerben und zu taggen, um den unabhängigen Buchmarkt anzuschieben, bei dem immer mehr reine E-Book-Verlage mitmischen. Tags zuvor lauschte eine überschaubare Menge an Zuhörern im Berliner Haus der Kulturen der Welt dem britischen Autor Adam Thirlwell. Thirlwell ist ein sympathischer junger Mann, erfolgreicher Romanschriftsteller und Literaturwissenschaftler mit Oxford-Hintergrund, der auch noch die richtigen Klamotten trägt. Und er hat eine Handvoll Bücher geschrieben, in denen er der Tradition der anarchischen Literatur huldigt. Der Titel seines Opus magnum lautet: „Der multiple Roman: Vergangene und zukünftige Abenteuer der Romankunst, verortet auf fast allen Kontinenten, in zehn Sprachen & mit einem gigantischen Ensemble von Schriftstellern, Übersetzern & anderen Phantasiewesen“. Ein schöner Ziegel, der den Leser kreuz und quer durch die Literaturgeschichte scheucht.
Auf dem Kongress „Literatur Digital“ im HKW, zu dem E-Book-Verleger, Übersetzer und Medientheoretiker geladen waren, vertrat Thirlwell die Autorenseite. Aus Sicht des durch Bücher inspirierten Schreibenden erklärte er die Herausforderungen und Chancen des E-Books. Er sagte, die Überarbeitung seines letzten Romans anlässlich einer Übersetzung habe ein ganz neues Werk entstehen lassen. Die häufig mit digitalen Texten in Verbindung gebrachte Idee des Unabgeschlossenen, wie sie Umberto Eco einst in „Das offene Kunstwerk“ formulierte, gefällt ihm offensichtlich.
Thirlwell erinnerte an die Debatte zwischen Kevin Kelly und John Updike vor einigen Jahren in der New York Times. Updike war Kellys Vision vom frei flottierenden virtuellen Text aus urheberlosen Einzelteilen mit Schrecken begegnet und hatte, ganz alte Schule, die Mondscheinsituation zwischen Autor und Leser beschworen, vermittelt durch das gedruckte Buch, was sonst.
Acht Jahre darauf haben die Umsätze auf dem digitalen Markt zwar kräftig angezogen, der Marktanteil der elektronischen Bücher liegt jedoch noch unter 10 Prozent, und die Experimente in Richtung kollektives Buch halten sich in Grenzen. Bei einer später am Abend im HKW anberaumten Diskussionsrunde amüsierten sich die geladenen unabhängigen Digitalverleger darüber, wie sie von einer begriffsstutzigen Literaturkritik weiterhin am klassischen Printgeschäft gemessen und digital verfügbare Texte stur als Drucksachen angefordert werden. Allerdings wurde auch deutlich, dass die jungen Programmmacher ihr Selbstverständnis, von der PR auf Lesungen und Messen über die Autorenpflege bis hin zur Terminologie, zu einem nicht geringen Teil aus der Gutenberg-Galaxie beziehen.
Nikola Richter, engagierte Leiterin des kleinen, feinen Digitalverlags mikrotext, räumte ein, ein Fan klassisch strukturierter Texte zu sein und mit den multimedial und interaktiv aufbereiteten sogenannten Enhanced E-Books wenig anfangen zu können. Auch wenn sich die Enhanced Editions einiger Fantasy-Sagas großer Beliebtheit erfreuen, eignet sich diese Sorte E-Book wohl tatsächlich besser für Kochbücher und Reiseführer als für literarische Texte.
Vielleicht liegt hier ja ein Grund dafür, dass sich der Abnabelungsprozess des E-Books so schwierig gestaltet. Indie und anders wäre gut, doch wenn die FAZ die erste E-Book-Rezension ihrer Geschichte bringt, ist die Freude bei Verlag und Autoren riesig. Und als Leser, das kann jeder bei sich selbst beobachten, ist man froh, wenn ein Text auf dem Tablet oder iPhone nicht allzu zerfasert rüberkommt und ein solides Lektorat gesehen hat.
Thirlwell beendete seinen Vortrag an diesem Abend mit Eindrücken aus seiner Proust-Lektüre. Die „Recherche“ könne nur zum Teil als abgeschlossen gelten, erklärte er, und weiter: Ein großer Text bleibe auch dem innigsten Leser ohnehin meist mehr als Idee denn als konkrete Handlung, Satz oder Wort in Erinnerung.
Da ist was dran. Die Frage ist bloß, ob es den ganz großen virtuellen Text überhaupt geben kann. Nach dem Vortrag meldete sich jemand aus dem Publikum mit einem regelrechten Stoßseufzer zu Wort. Es sei so schön, sagt er leise ins Mikrofon, hier in diesem Zusammenhang von Proust sprechen zu hören.