: Einmal in 100.000 Jahren
Am 26. April 1986 explodiert dreißig Kilometer von Tschernobyl entfernt ein Atomreaktor. Der Super-GAU in der Ukraine und die folgende Desinformationspolitik der Kohl-Regierung führen zu einem grundsätzlichen Umdenken in Sachen Atomenergie. Und zum Aufstieg derjenigen, die sich glaubwürdig um Aufklärung mühen – z. B. der taz. Der damalige Ökoredakteur Harald Schumann erinnert sich
Der schlechteste Protestsong aller Zeiten erscheint – „Tschernobyl“ (1986) von Wolf Maahn und einem Allstar-Chor u. a. mit BAP und Grönemeyer: 1. Strophe: Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1986 / Die Ausbeutung und Zerstörung der Natur hat wahrlich gigantische Ausmaße erreicht / Und immer noch – immer noch scheinen die Menschen es hinzunehmen / Jeder in dem Glauben, er könne eh nichts dagegen tun und es werde schon gut gehen / Es ist die Frage, ob daran ein Vorfall etwas ändern kann, der sich am 26. April ereignet hat / Die Rede ist von dem ersten sogenannten Super-GAU, dem größten anzunehmenden Unfall in einem Kernkraftwerk, der ganz Europa in einem noch nicht abzusehenden Maße radioaktiv verseucht hat. Er geschah in Tschernobyl, Rußland. Refrain: Oohoho Tschernobyl Das letzte Signal vor dem Overkill Heh, heh, stoppt die AKWs! Heh! Der Erlös der Single geht an eine unabhängige Messstelle für Radioaktivität in Berlin.
Man stelle sich vor: Ein Atomreaktor explodiert, mehrere hundert Tonnen radioaktiver Partikel werden in die Atmosphäre geschleudert, verbreiten sich über tausende von Kilometern und gefährden die Gesundheit von Millionen in halb Europa – aber die Menschen wissen von nichts und niemand sagt es ihnen. Was heute, im Zeitalter der grenzenlosen elektronischen Vernetzung, unvorstellbar erscheint, ist vor 22 Jahren genau so geschehen: Im Atomkraftwerk W. I. Lenin am ukrainischen Fluss Pripjat, 30 Kilometer nördlich der Provinzstadt Tschernobyl, verwandelte eine überforderte Betriebsmannschaft einen der vier dort betriebenen Reaktoren in ein brennendes radioaktives Inferno. Doch außer den Arbeitern und Feuerwehrleuten vor Ort sowie ein paar hohen Beamten in Kiew und Moskau und bei den großen Geheimdiensten erfuhr fast drei Tage lang kein Mensch davon.
So hatte auch die taz-Redaktion zunächst keine Ahnung. Schlimmer noch: Sie war gar nicht im Dienst. „Der erste Super-GAU der Welt“, wie wir später titelten, begann am Morgen des 26. April 1986, einem Samstag, der bei einem Blatt ohne Sonntagsausgabe arbeitsfrei ist. Doch für die Berichterstattung war das ohnehin belanglos, weil nicht nur die sowjetischen Behörden eine vollständige Nachrichtensperre verhängt hatten. Auch die Nachrichtendienste der USA und ihrer Alliierten, die aus ihren Satellitendaten um die Gefahr wussten, schlossen sich dem Schweigekartell an. Darum erreichte die erste Nachricht von dem Unglück die westliche Öffentlichkeit auf denkbar skurrilem Wege. Im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark meldeten am Montagmittag, zwei Tage nach Beginn des Reaktorfeuers, die Strahlungssensoren Alarm. Das Kraftwerk war abgeschaltet und geräumt worden, weil zunächst niemand wusste, woher die Radioaktivität gekommen war. Die entsprechende Agenturmeldung lief kurz vor dem damals furchtbar frühen Redaktionsschluss der taz gegen 16 Uhr aus dem Drucker. Folglich reichte es gerade mal für eine Fünf-Zeilen-Meldung auf Seite 1 der Dienstagsausgabe unter der Überschrift „Schwedisches AKW strahlt“.
Ich verließ die Redaktion in Erwartung anstrengender Recherchen am nächsten Tag, aber niemand kam auch nur auf die Idee, der Vorfall in Schweden könnte auf eine Reaktorexplosion in der 1.100 Kilometer entfernten Ukraine zurückgehen.
Aus dem folgenden anstrengenden Tag wurden dann Monate, die nicht nur die deutsche Politik umwälzten und den Anfang vom Ende der Sowjetunion markierten, sondern auch die taz gründlich veränderten. Nie zuvor und nie wieder danach, das versichern jedenfalls einige der damaligen Mitstreiter, hat die Redaktion so hart und fieberhaft gearbeitet wie in diesem Frühling 1986. Der Antrieb dafür war nicht nur das gewaltige Ereignis selbst. Hinzu kam: Erstmals bekam die taz, dieses kleine Bewegungsblatt aus dem verstaubten West-Berlin, dessen Graswurzel-Journalisten den professionellen Maßstäben ihrer Zunft nicht immer so gerecht wurden wie heute, ihre große Chance. Plötzlich hatte ausgerechnet diese bunte Truppe aus dem Hinterhof der deutschen Medienwirtschaft einen doppelten Wettbewerbsvorteil: Sie hatte für kurze Zeit einen Vorsprung bei den Informationen und – noch viel wichtiger – bei der Glaubwürdigkeit. Angesichts des bis heute anhaltenden Leidens der Strahlenopfer mag es zynisch klingen, aber Leugnen wäre zwecklos. Endlich auch einmal die Nase vorn zu haben, das war für uns tazler ein starker Antrieb.
Ursache für den unerwarteten journalistischen Höhenflug der Redaktion war das nukleare Schisma in der deutschen Gesellschaft. Die Kritik an der Atomtechnik war bis dahin noch immer ein Außenseiterthema. Zwar hatte der Protest gegen den „Atomstaat“ einige hunderttausend Menschen mobilisiert und die Grünen waren mit 5,3 Prozent der Stimmen drei Jahre zuvor in den Bundestag eingezogen. Aber Deutschlands regierende Eliten in Politik und Wirtschaft standen nach wie vor geschlossen zum nuklearen Fortschritt, und genauso hielten es die meisten Journalisten. Von Anfang an war die Katastrophe von Tschernobyl darum nicht nur ein technisches Unglück, sondern auch der größte anzunehmende Unfall für Europas Medien.
Über Tage, teils sogar Wochen versagten sie bei der Aufklärung der Bevölkerung. Viel zu abhängig waren sie von der (Des-)Informationspolitik der Regierungen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Zwar war nun genau das eingetreten, von dem es stets geheißen hatte, dass es vielleicht ein Mal in 100.000 Betriebsjahren möglich sei. Weil sie diese Gefahr aber über Jahrzehnte geleugnet hatten, übten sich Regierungen und Behörden in Ost und West nun in seltener Eintracht in der Verharmlosung der Strahlengefahr. Man wisse nicht, ob die radioaktive Wolke die Bundesrepublik erreichen werde, aber wenn, dann werde „die Konzentration der Radioaktivität mit Sicherheit nicht so hoch, dass sie gefährlich wird“, ließ am Dienstag nach dem Unglück der CSU-Politiker Friedrich Zimmermann verbreiten, der als Innenminister der Regierung Kohl für Umweltfragen zuständig war. Ähnlich äußerten sich die industrienahen Experten der Strahlenschutz-Kommission. Wir wussten es besser.
Die vielen neueren Forschungsergebnisse über die Wirkung der sogenannten Niedrigstrahlung gehörten für Atomkraftgegner zum Basiswissen. „Bei Ostwind Gefahr für die BRD“ war darum eine der taz-Schlagzeilen am 30. April, dem ersten Tag, nachdem die „Reaktorkatastrophe in der UdSSR“ über den Umweg in Schweden bekannt geworden war. Die allermeisten Deutschen erreichte diese Warnung nicht. Sie genossen bei Ostwind und Sonne den folgenden 1. Mai – und setzten sich und ihre besonders strahlungsempfindlichen Kinder einer Strahlung aus, die an vielen Orten bis zu hundertfach über dem Normalniveau lag.
Dieser Verzicht auf amtliche Warnungen und Vorsichtmaßnahmen just zu dem Zeitpunkt, als der Fallout aus Tschernobyl über Deutschland niederging, war eine der größten Dummheiten der ersten Regierung von CDU-Kanzler Helmut Kohl. Denn natürlich gab es an Universitäten und freien Forschungsinstituten genügend kritische Geister und Messgeräte, um die Regierungspropaganda zu durchkreuzen. Eine Flut von Messergebnissen erreichte die Redaktion schon in den Nachmittagsstunden jenes strahlenden 1. Mai, und es sollten in den folgenden Monaten immer mehr werden.
„Die Informationspolitik der Bundesregierung ist kriminell“ und „Glaubt ihnen kein Wort“, mit diesen Worten kommentierte der Physiker Lothar Hahn von der Darmstädter Filiale des Öko-Instituts noch am selben Tag in der taz die amtliche Ignoranz beim Umgang mit der Strahlenwolke. „Misstraut den Offiziellen“ und „Vor Entwarnung wird gewarnt“ lauteten darum die programmatischen taz-Überschriften der nächsten beiden Tage, und diese Botschaft kam an. In den folgenden Wochen ließ sich dann geradezu archetypisch beobachten, was geschieht, wenn eine Gesellschaft das Vertrauen in ihre staatlichen Instanzen verliert.
Die erste Folge war die Verbreitung von Hysterie und Übertreibung. Daran war auch die taz nicht unbeteiligt. Über Wochen veröffentlichten wir Tabellen von Messwerten, die die meisten Leser gar nicht richtig interpretieren konnten. Weil zunächst niemand zuverlässig Auskunft über Strahlengefahr und Schutzmaßnahmen geben konnte, zogen die Menschen ihre eigenen Schlussfolgerungen. Eltern mit kleinen Kindern und Schwangere flohen in südliche, unverstrahlte Gestade. Die Panik war vor allem im links-grünen Milieu weit verbreitet, plötzlich waren auch viele Mitarbeiter der taz ohne Partner und Kinder zu Hause. Andere, die sich diesen Luxus nicht leisten konnten, begannen verarbeitete Lebensmittel aus der Zeit vor dem Fallout zu horten. Nach und nach unterzog sich die halbe Republik einem Grundkurs in Strahlenmedizin. Ein ums andere Mal erklärten wir den Unterschied zwischen Alpha-, Beta- und Gammastrahlung, die Bedeutung der Einheiten Becquerel, Millirem und Sievert und warum es einen Unterschied macht, ob die Strahlung auf die Haut trifft oder über die Nahrung ins Gewebe gelangt.
Parallel dazu stieg das öffentliche Ansehen der Institutionen, die sich von Anfang an um Aufklärung bemüht hatten, in völlig übertriebene Höhen. Ausgerechnet die kleine taz und das nicht minder kleine Öko-Institut gerieten fast über Nacht in den Ruf, den besten Rat und die zuverlässigsten Messdaten zu liefern – eine Rolle, die beide völlig überforderte und höchst widersprüchliche Folgen zeitigte. Tausende versuchten die Redaktion telefonisch um Rat zu fragen und blockierten so die Leitungen, die für die Arbeit so dringend benötigt wurden. Zehn Tage nach der ersten Meldung über das Unglück sah sich die Redaktion darum genötigt, die Leser darum zu bitten, „uns unser Handwerk tun zu lassen“, und auf andere glaubwürdige Beratungsangebote bei Grünen und Verbraucherinitiativen zu verweisen.
Umso willkommener war jedoch eine weitere Folge der plötzlich so hohen Wertschätzung beim Publikum: Die Auflage unserer „alternativen“ Tageszeitung erreichte ungeahnte Höhen. Bis Juni stieg die Zahl der Abos von 20.500 auf 31.000 und der Einzelverkauf verdoppelte sich von 9.000 auf 18.000. Erstmals konnten die taz-Mitarbeiter davon träumen, dass ihr Projekt wirtschaftlich eine stabile Grundlage bekommen könnte.
Insofern zählten die taz und ihre Mitarbeiter ohne Zweifel zu den Gewinnern der Katastrophe – ein Umstand, von dem auch der Autor dieser Zeilen profitierte. Mit der großzügigen Unterstützung vieler Experten und gestützt auf die Aussagen zahlreicher sowjetischer Funktionäre konnte ich frühzeitig einen Artikel schreiben, der versuchte, die dramatischen Ereignisse bei der Löschung des Atomfeuers am Pripjat zu rekonstruieren. Dort opferten sich mehrere hundert Soldaten und Bergwerker, um schließlich 15 Tage nach Ausbruch des Feuers die glühende Masse des geschmolzenen Urankerns so weit abzukühlen, dass ihr Durchbruch ins Grundwasser und damit eine noch größere Dampfexplosion und Katastrophe verhindert wurde.
Aber eine wichtige Korrektur sei hier nachgereicht. Die Beschreibung des technischen Verlaufs, der zur Kernschmelze führte, war gänzlich falsch. Es dauerte noch fünf Jahre, bevor herauskam, wie es tatsächlich dazu gekommen war, dass die Reaktorfahrer von Tschernobyl aus Fahrlässigkeit und Kadavergehorsam ihre Maschine zur Explosion brachten – als Ruhmesblatt für den kritischen Journalismus taugt diese Geschichte nicht.
HARALD SCHUMANN, 51, war taz-Redakteur für Umwelt und Wissenschaft von 1984 bis 1986. Heute beim Tagesspiegel. Im Mai erschien sein mit Christiane Grefe verfasstes Buch „Der globale Countdown. Gerechtigkeit oder Selbstzerstörung – Die Zukunft der Globalisierung“ (KiWi).