piwik no script img

Archiv-Artikel

Abschiebepolitik hat nicht selten tödliche Folgen

Die Antirassistische Initiative Berlin sammelt Fälle, in denen Abschiebehäftlinge unmenschlich behandelt werden

BERLIN taz ■ Warum David S. am 16. Juli 2008 in der Justizvollzugsanstalt Nürnberg nicht gerettet werden konnte, wird sich vielleicht nie mehr klären lassen. Der 23-Jährige hatte sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufgeschnitten und kurz danach um Hilfe gerufen. Doch erst nach knapp 30 Minuten trafen Sanitäter ein und begannen mit der Nothilfeversorgung. Kurz danach wurde der junge Mann bewusstlos und starb an dem hohen Blutverlust.

Dass der Fall nach fast acht Monaten einer größeren Öffentlichkeit bekannt wird, ist der Antirassistischen Initiative Berlin (ARI) zu verdanken.

Eine kleine Gruppe von AktivistInnen sammelt und prüft akribisch alle Meldungen über Gewalt gegen Flüchtlinge und stellt eine jährlich aktualisierte Dokumentation über die „bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“ zusammen.

In die kürzlich erschienene 16. Ausgabe wurde auch der Tod von David S. aufgenommen. Der 15-Jährige war mit seinen Eltern aus Armenien nach Deutschland gekommen. Während seine kranken Eltern Ersatzpässe bekamen, trieben die Ausländerbehörden die Abschiebung von David S. kurz nach seiner Volljährigkeit voran. Er musste die Eltern verlassen und in eine Sammelunterkunft ziehen.

Als er dann wegen des Verdachts auf Beteiligung an einem Überfall in Untersuchungshaft kam, durfte er seine Eltern weder sehen noch mit ihnen telefonieren. Seine selbstzugefügten Verletzungen waren deswegen wohl eher eine Verzweiflungstat als ein Todeswunsch. Bisher ist über die Strafanzeige, die die Eltern von David S. gegen die JVA-Beamten und das medizinische Personal wegen unterlassener Hilfeleistung und fahrlässiger Tötung gestellt haben, noch nicht entschieden.

In der ARI-Dokumentation werden auch mehrere Fälle von Abschiebungen nach Selbstmordversuchen aufgelistet. Darunter ist der Fall eines 20-jährigen Kurden, der sich in Regensburg in der Abschiebehaft anzündete. Er überlebte. Zwei Wochen später wurde er in die Türkei abgeschoben, wo er mehrmals festgenommen und nach eigenen Angaben beim Verhör geschlagen wurde. Auch ein albanischer Flüchtling wurde kurze Zeit nach einem Suizidversuch am 1. Mai 2008 in das Kosovo abgeschoben.

Als die Antirassistische Initiative Berlin Anfang der Neunzigerjahre mit der Dokumentationsarbeit begann, standen die Angriffe von Neonazis auf Flüchtlinge im Vordergrund. In den letzten Jahren rückten die tödlichen Folgen von Abschiebungen und Abschiebehaft in den Mittelpunkt. Die ARI-Mitarbeiterin Elke Schmidt sieht im Fehlen von Menschenrechtsschutz für Flüchtlinge in Deutschland ein „Grundproblem“. PETER NOWAK