: Zwölf Kilometer Orient
Das syrische Aleppo fasziniert mit seinen Gassen, Händlern und Gerüchen. Aleppo, das ist Nostalgie mit Zukunft, denn das Konzept der Stadtsanierung zielt nicht auf museale Wiederherstellung, sondern auf eine lebendige, bewohnte Altstadt
VON GÜNTER ERMLICH
„Wir wollen die Altstadt von Aleppo vor dem weiteren Verfall retten und gleichzeitig die Wohn- und Lebensbedingungen der Einheimischen verbessern“, referiert Meinolf Spiekermann. Ein schlichter Satz für ein großes Programm. Hier in der frisch restaurierten Shibani-Schule, einem Stadtpalast, in dem früher ein Franziskanerkloster, später ein Tabaklager, dann der Leerstand beheimatet waren, ist heute die Dauerausstellung zur Sanierung der Altstadt Aleppos untergebracht. An einem Miniaturmodell mit vielen kleinen Häusern, Moscheen, Karawansereien, einer Stadtmauer und dem alles überragenden Zitadellenhügel erläutert Spiekermann einer deutschen Besuchergruppe so engagiert wie routiniert sein Projekt. Ein Erfolgsmodell.
Der Stadtplaner ist Leiter eines deutsch-syrischen Teams der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), die seit 1993 Aleppo bei der behutsamen Rehabilitierung der Altstadt berät. Kürzlich bekam das Projekt den Preis der renommierten Harvard Design School für nachhaltige und menschenwürdige städtische Designkonzepte verliehen. Das umfassende städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsprogramm wird auch von so gewichtigen Institutionen wie dem Aga Kahn Trust for Culture und der Arab Fund for Social and Economic Development unterstützt.
Aleppo liegt nahe der türkischen Grenze und ist mit rund zwei Millionen Einwohnern, Muslimen, Juden und 30 Prozent Christen, inzwischen die größte Stadt Syriens und ihr industrielles Zentrum. Die seit 5.000 Jahren besiedelte „Aschgraue“ war in osmanischer Zeit eine blühende Handelsmetropole zwischen Seiden- und Gewürzstraße, ein bedeutender Knotenpunkt der Karawanenstraßen zwischen Europa und Asien. Im Jahr 1986 wurde die Altstadt, ein historischer Kern von 350 Hektar Fläche, trotz Vernachlässigung von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. Zwischen der Zitadelle und der großen Moschee schlägt ihr Puls, der Souk: ein Marktlabyrinth von überdachten Gassen und Sackgassen mit 1.001 kleinen Geschäften – zwölf Kilometer lebendiger Orient.
Mittlerweile führt Adnan Ghrewati, der Leiter der Aleppo-Ausstellung, Reisende durch die Shibani-Schule. Ghrewati, ein distinguierter Herr, der früher als technischer Direktor einer staatlichen Tabakfabrik vorstand, spricht prima deutsch, weil er fünf Jahre als Werkzeugmacher in Solingen gearbeitet hatte. Mit dem dort verdienten Geld konnte er sich eine moderne Wohnung in der Neustadt kaufen. Wer es sich leisten konnte, kehrte wie Ghrewati der Altstadt den Rücken. Vor rund 50 Jahren begann deren endgültiger Niedergang, die Stadtverwaltung hatte den historischen Stadtkern dem systematischen Verfall überlassen. Wasser- und Abwasserleitungen wurden marode, das Wasser drang in die Fundamente, die Häuser bekamen Strukturschäden.
Parallel zur fortschreitenden Verslumung ganzer Quartiere setzte der Modernisierungswahn per Abrissbirne ein. Nach einem französischen Stadtentwicklungsplan schlug man breite Straßenschneisen quer durch die Altstadt. Traditionelle arabische Innenhofhäuser wurden geopfert, an ihre Stelle gesichtslose sieben-, achtgeschossige Neubauten hingeklotzt. Die Altstadt blutete aus: 100.000 Menschen, die Hälfte der Bevölkerung, zogen weg in Neubaugebiete mit hellen Wohnungen, mit Strom, fließend Wasser und ausreichend Parkplätzen.
Nur die Armen blieben in der Altstadt, sie konnten nicht investieren, viele Häuser verfielen, nur Zuwanderer aus dem Umland zogen noch in leer stehende Häuser ein. Insgesamt veränderte sich die Sozialstruktur drastisch, den Menschen fehlte die Kaufkraft, vielen Geschäften drohte der wirtschaftliche Kollaps. Jahrzehnte dämmerte die Altstadt im Koma. Aber sie hat überlebt, atmet heute wieder, bringt verlorene Lebensqualität zurück. Kein Wunder, dass sich der Negativtrend der Abwanderung seit zehn Jahren ins Positive gewendet hat: Laut Volkszählung vom Dezember vergangenen Jahres leben heute 118.000 Menschen hier. „Die Aleppiner haben wieder Vertrauen gefasst und investieren in ihre Häuser, sie haben gemerkt, die Stadt meint es ja wirklich ernst“, sagt Meinolf Spiekermann.
Zunächst sanierte man die Infrastruktur in den Kleingebieten, den „action areas“. Wer heute durch die Altstadt läuft, sieht den Aufbruch, spürt die positive Stimmung: restaurierte Häuserfassaden und Holzbalkone, neu verlegtes Straßenpflaster, vor allem aber neue Wasser- und Abwasserleitungen. Etwa 70 Prozent des gesamten Straßennetzes ist schon fertig gestellt. Noch bescheiden ist hingegen die soziale Infrastruktur für die Altstadtbewohner, wenigstens gibt es jetzt zwei Gesundheitsstationen und einen Kindergarten. „Alles ging schneller voran als gedacht, weil wir einen Geldsegen aus Deutschland bekamen“, freut sich Meinolf Spiekermann. Für den Zeitraum von 1993 bis 2007 erhielt das GTZ-Projekt 10 Millionen Euro aus Mitteln des deutsch-syrischen Schuldenerlassabkommens.
„Um die Leute in der Altstadt zu halten, mussten wir ihnen aber auch helfen, ihre Häuser wieder instand zu setzen“, sagt Rania Agel beim Glas Tee im Hotel Baron, in dem auch schon Agatha Christie und Lawrence von Arabien ihren Tee tranken. Die agile Architektin betreut im GTZ-Projekt die Vergabe der zinslosen Kleinkredite – maximal 3.000 US-Dollar – und koordiniert die technische Beratung der Haussanierer. Rund 3.000 der 10.000 Wohnhäuser der Altstadt müssten dringend saniert werden, erklärt die Architektin, immerhin seien bereits rund 20 Prozent mit den Kleinkrediten repariert worden.
Auch der Stadtpalast Seif al-Dawlah wurde wieder prächtig hergerichtet. In den Gebäuden rund um den stattlichen Innenhof logieren die lichten Büros des GTZ-Teams und des Altstadtdezernats. Mit 8 lokalen GTZ-Fachkräften berät Teamchef Spiekermann die rund 60 Architekten und Ingenieure des Altstadtdezernats. Inzwischen darf eine Baugenehmigung für die Altstadt nicht länger als 20 Tage dauern. Der Bürgermeister von Aleppo, bis vor zwei Jahren selbst GTZ-Mitarbeiter, hat dieses bürgerfreundliche Schnellverfahren kurzerhand für die ganze Stadt übernommen.
Der Platz Sahat al-Hatab liegt außerhalb der Stadtmauern, im Christenviertel Djudaide. Er ist ein Paradebeispiel dafür, dass durch die Neugestaltung eines einzigen Platzes ein gesamtes Stadtquartier aufgewertet wird. Der frühere Müllsammelplatz mutierte zur begrünten, verkehrsberuhigten Oase. In den Seitengassen rund um den Platz wurden Herrenhäuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert in stilvolle Hotels wie das Bait Wakil oder das Dar Zamaria umgewandelt, immer mehr schicke Restaurants ziehen in die historischen Gemäuer ein. Privatleute, die ihre maroden Häuser einst verscherbelten, kaufen sie heute zum 100fachen Preis zurück. Djudaide ist trendy geworden.
Termine, Termine! Meinolf Spiekermann hastet durch die Gassen, ein kurzes Stück durch das Gewusel des Souks und erzählt druckreif: „Wir wollen auf keinen Fall eine physisch schön restaurierte, museumsreife Altstadt, „in der die soziokulturelle Authentizität verloren geht.“
Manche Touristen finden einfach nicht den Weg zum Bab Antakya, dem westlichen Eingangstor zum Souk, durch das im Jahr 637 die Araber ritten, um die Stadt zu erobern. Zahlreiche vorgelagerte Stände und Läden verstellen von der Straße aus den Blick auf das mächtige Stadttor. Der junge Architekt Kamal Bitar erklärt das Aktionsprojekt Nr. 5, das ein 70 Hektar großes Sanierungsgebiet mit anarchisch gewachsenen „Strukturen“ umfasst: aufgelassenen Marktgebäuden, Schuttplätzen, wild angelegten Lehmstraßen und ausufernden Stationen für Minibusse, Sammeltaxen und Überlandbusse. „In einer ersten Phase wollen wir die Außenseite der westlichen Stadtmauer freilegen, besonders den Kernbereich mit dem Stadttor und den beiden Wehrtürmen“, erklärt Kamal Bitar. Viele kleine Läden und Werkstätten, darunter Dutzende Keramikgeschäfte, die vor der Mauer seit 40, 50 Jahren „illegal“ wirtschaften, müssten weichen und würden in unmittelbarer Nähe in extra hergerichteten Gebäuden neu angesiedelt. Die Händler und Ladenbesitzer wurden in die Planung mit einbezogen.
Kamal Bitar weiß, wie integrierte Stadtplanung funktioniert. „Strategien, Programme und Projekte für eine nachhaltige Wiederbelebung der Altstadt von Aleppo“ lautete seine Doktorarbeit, die er an der Uni Stuttgart verfasste. „Wir müssen jetzt durchstarten“, sagt Dr. Bitar, „denn das Projekt hat auch für den Präsidenten Baschar al-Assad oberste Priorität.“
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