: Alles unter Schlamm
Die Nesin-Stiftung, die türkischen Kindern aus armen Familien eine neue Heimat und eine Ausbildung bietet, steht vor dem Ruin
■ Die Stiftung: Die Nesin-Stiftung wurde 1972 von dem Schriftsteller Aziz Nesin gegründet. Ziel der Stiftung ist es, Kinder aus armen, aber stabilen Familien, eine gute Ausbildung zu ermöglichen, wenn die Eltern das wünschen, aber nicht selbst finanzieren können. Die Kinder kommen im Grundschulalter in die Stiftung und leben dort zusammen mit ihren Erziehern. Von dem Stiftungsgelände aus gehen sie zunächst auf eine öffentliche Schule in der Nähe, später auf weiterführende Schulen in Istanbul.
■ Die Schule: Die Kinder kommen auf Anfrage der Eltern, anderer Verwandter, von Lehrern oder von Nachbarn zur Stiftung und werden vom Stiftungsvorstand ausgewählt. Aziz Nesin hat einen pädagogischen Grundsatzkatalog entwickelt, nach dem die Kinder in einer freien, demokratischen Umgebung zu selbstbewussten, kritischen Menschen erzogen werden sollen. Die Stiftung bekommt keinerlei öffentliche Förderung. Sie finanziert sich aus dem Verkauf von Nesins Büchern, Einkünften aus Immobilien, die zu diesem Zweck angeschafft wurden, und vor allem aus Spenden. Einen guten Teil der Spenden hat bislang der deutsche Förderverein beigetragen. Gerade jetzt hoffen die Stiftungsmitarbeiter auf verstärkte Hilfe aus Deutschland.
■ Spenden: Wer einen Beitrag leisten will, kann dies über ein Konto des Fördervereins für die Nesin-Stiftung tun. Das Spendenkonto des Fördervereins der Nesin Stiftung (www.foenes.org) ist bei der Sparkasse Bremen, Konto-Nr. 10262509, BLZ 29050101 (jg)
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
Simon zeigt auf eine Abbruchkante, ungefähr 50 Meter entfernt. Dort, in einer mindestens fünf Meter tiefen Rinne, dort fließt er. Um ihn denn wirklich zu Gesicht zu bekommen, kämpfen wir uns durch immer noch knietiefen Schlamm. Dann kann man ihn endlich erkennen. Einen unscheinbaren, schmutzig braunen Bach, der fast in der tiefen Rinne verschwindet. Das ist alles, und von dort soll alles Unheil gekommen sein.
„Keine zwei Stunden hat es gedauert“, erzählt Simon, „da hatte der unscheinbare Bach sich in einen reißenden Strom verwandelt, der alles unter Wasser setzte.“ Das Wasser verwüstete die Werkstätten, die dem Bach am nächsten lagen. Danach erreichten die Fluten das Haupthaus und verwandelten das Erdgeschoss in einen schmutzigen Swimmingpool. Die gesamte Küche schwamm weg, der Theatersaal lief voll. Vor allem aber die Bibliothek und der Raum, der dem Andenken an den großen Literaten Aziz Nesin gewidmet ist. Beiden drohten durch die Flut unwiederbringliche Verluste. „Hier haben alle angepackt und die Bücher und das Archiv von Aziz Nesin gerettet“, berichtet Simon stolz. „Alle haben sofort daran gedacht.“ Doch das Wichtigste sei, dass keine Menschen zu Schaden gekommen sind, sagt er.
Trotzdem steht die Nesin-Stiftung, das türkische Summerhill, rund 60 Kilometer westlich von Istanbul, vor dem Ruin. Die Einrichtung, in den 70er-Jahren von dem Schriftsteller und Satiriker Aziz Nesin gegründet, hat mittlerweile mehr als hundert Kindern und Jugendlichen die Chance gegeben, in einer freien Umgebung aufzuwachsen und eine ihren Fähigkeiten entsprechende Ausbildung zu absolvieren.
Küche zerstört
Anders als Summerhill betreibt die Nesin-Stiftung aber keine eigene, kostenpflichtige Schule, sondern bietet Kindern aus armen Familien eine neue Heimat und ermöglicht ihnen den Besuch qualifizierter öffentlicher Schulen. Im Moment kann sie ihren Kindern allerdings noch nicht mal eine Mahlzeit anbieten, denn die Großküche ist komplett zerstört. „Wir mussten unsere Kinder evakuieren“, erzählt Klaus, ein 70 Jahre alter Herr aus Bremen, der vor Jahren in Deutschland den Förderverein der Nesin-Stiftung mitgründete und seit drei Jahren seine Zeit als emeritierter Professor überwiegend in der Nesin-Stiftung in der Türkei verbringt. Zusammen mit der Leiterin Nuram Hanim versuchen sie seit Tagen, das Chaos zu bewältigen, den Schaden zu bilanzieren und mit viel Improvisation die Gebäude und das Gelände wieder begeh- und bewohnbar zu machen.
Die große Flut, die am 8. und 9. September weite Teile Istanbuls und die Dörfer und Städte westlich der Metropole unter Wasser setzte, hat allein in Istanbul 34 Menschen das Leben gekostet und Schäden von mehreren 100 Millionen Euro hinterlassen. Auch in Catalca, der Kleinstadt, zu der die Nesin-Stiftung geografisch gehört, sind sieben Menschen ertrunken. Das Gelände neben der Stiftung beherbergt ein Gestüt. Dort sind 30 Pferde in den Fluten umgekommen. Noch nach Tagen fanden sich Kadaver im Brackwasser. Ganze Flächen stehen entweder immer noch unter Wasser oder wurden in schlammige Geröllhalden verwandelt. Während in der Stadt Wohnhäuser und Fabriken zerstört wurden, sind hier draußen außerdem die Felder und Gärten verwüstet, das Vieh ist ertrunken. In den großen Obstgärten blieben oft nur noch entwurzelte Bäume zurück. Selbst jetzt sind immer noch nicht alle Telefonleitungen repariert, und erst seit Kurzem gibt es wieder Strom. „Vorher“, sagt Klaus, „hatten wir hier nur Kerzen.“ Über etliche Quadratkilometer lagen sämtliche Siedlungen und Kleinstädte westlich von Istanbul im Dunkeln. „Es war gespenstisch“, meint er und ist froh, dass mit dem Strom die Zivilisation langsam zurückkehrt.
Am Tag der Katastrophe war er in Istanbul, und er gehörte dann zu den wenigen, die das Gebiet nicht verlassen, sondern hineinwollten. „Ich wollte natürlich unbedingt sehen, was hier los ist, und auch mit anpacken, aber alle Wege waren gesperrt.“ Doch er schaffte es, sich in einen Militärhubschrauber, der Leute ausflog, auf dessen Rückweg zum Einsatzort mit hineinzuzwängen. So kam er rechtzeitig zurück, um das ganze Ausmaß des Desasters hautnah zu erfahren. Aber Klaus Liebe-Harkort, der emeritierte Turkologieprofessor, war nicht der Einzige, der nach Catalca eilte. Viele Ehemalige aus Istanbul, ja selbst aus dem Ausland, kamen, um zu helfen.
Einer von ihnen ist Simon Wester, der als Deutscher vor zwei Jahren hier seinen Zivildienst ableistete. Auch andere Ausländer, die über ein von der EU gesponsertes Programm hier ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren, sind dabei. Insgesamt eine bunte Truppe von Katastrophenhelfern, die erschöpft, aber doch guter Stimmung sind, weil es doch sichtlich vorangeht und allmählich alle wieder trockenen Boden unter den Füßen haben.
In einem bewegenden Appell hatte zuvor Ali Nesin, der Sohn des 1995 verstorbenen Aziz Nesin, alle Freunde und Unterstützer der Stiftung aufgerufen, jetzt alle Kräfte zu mobilisieren, um das Erbe seines Vaters zu retten. Denn über die konkrete Heimstatt für aktuelle knapp 50 Kinder hinaus ist die Nesin-Stiftung in der Türkei auch ein politisches Symbol für zivilgesellschaftliches Engagement zugunsten armer, mitunter auch schwieriger Kinder, die in dem nach wie vor autoritären Schul- und Erziehungssystem des Landes kaum eine Chance gehabt hätten.
Aziz Nesin, bis heute einer der bekanntesten linken Schriftsteller des Landes – in der Türkei ist er genauso populär wie der Nobelpreisträger Orhan Pamuk –, war ein Mann, der sich einmischte. Er gehörte zu den streitbarsten Intellektuellen und legte sich mit dem Militär ebenso an wie mit den religiösen Fanatikern. Fast 200-mal wurde er wegen seiner Bücher und Artikel angeklagt, immer wieder saß er auch in Untersuchungshaft. Doch Aziz Nesin ließ sich nicht einschüchtern. Nach dem Putsch 1980 gehörte er zu den Initiatoren eines Demokratieaufrufs, und Anfang der 90er-Jahre war er es, der Auszüge von Salman Ruhsdies „Satanischen Versen“ auf Türkisch publizierte, was ihm den Hass der Fundamentalisten einbrachte. Als er im Juli 1993 an einem Kulturfestival progressiver Aleviten in dem anatolischen Städtchen Sivas teilnahm, steckte ein fanatisierter sunnitischer Mob das Tagungshotel in Brand. Nesin konnte gerettet werden, aber 37 Menschen verbrannten.
Seine Kinderstiftung vor den Toren Istanbuls war für ihn auch ein Ort des persönlichen Rückzugs, an den er gern kam, um „jung zu bleiben“, und wo er auch einige seiner insgesamt 130 Bücher verfasste. Die kleine Wohnung, die Aziz Nesin auf dem Gelände bewohnte, lag ebenerdig und wurde ebenfalls von der Flut verwüstet. Aber seine Erben lassen sich ganz in seinem Sinne nicht unterkriegen. Mit den ersten Spenden, die eingingen, wird nun die Elektrik wieder instand gesetzt. Ein Installateur hat die Heizungsanlage inspiziert und schätzt den Schaden auf gut 10.000 Euro. Er will schon bald mit der Reparatur beginnen.
„Für die ersten Notreparaturen ist Geld da“, sagt Klaus Liebe-Harkort, aber dann fehlt es an allen Ecken und Enden. „Bis wir hier wieder auf dem Stand von vor der Flut sind, wird es Jahre dauern“, ist sich Klaus sicher.