: Gefangen in einem Wald aus Wundern
Beim Wiener Filmfestival Viennale widmete sich ein Programm dem Dschungel als Ort, von dem aus sich Geschichten über Selbstaufgabe und Irrsinn erzählen lassen
VON CRISTINA NORD
Kenneth Anger trägt einen Wollpullover, in den bunte Planeten eingewoben sind. Er präsentiert den Film „Cobra Woman“ von Robert Siodmak, es ist kurz vor Mitternacht und das große Wiener Gartenbaukino für die späte Uhrzeit gut besucht. „Cobra Woman“ ist eine im Jahr vor Kriegsende gedrehte, exotistische Fantasie: In einem imaginären indischen Inselreich herrschen ein Schlangengott und eine Schlangenkönigin auf grausame Weise. In der Haupt- und Doppelrolle der Königin und deren gut meinender Zwillingsschwester agiert María Montez. Zweimal tanzt sie ihren Schlangentanz, die Bewegungen sind dabei ähnlich hölzern wie die der künstlichen Kobra. Trotzdem sorgt allein das Schillern ihres Kostüms, da es die Haut einer Schlange nachempfindet, dafür, dass die Szene unvergesslich wird.
Anger seinerseits – als König des Klatschs in Hollywood – erzählt, wie María Montez zu Tode kam: Sie liebte es, sehr heiße Bäder zu nehmen. Am Tag ihres Todes, dem 7. September 1951, wurde sie dabei ohnmächtig, ihre Hand sank auf den Heißwasserhahn, kochendes Wasser schoss weiter in die Wanne. „Parboiled“ wurde sie, sagt Anger, „like a lobster.“ Als das Dienstmädchen das Badezimmer betrat und Montez am Arm berührte, habe es ein Stück gares, helles Fleisch in der Hand gehalten.
„Cobra Woman“ gehörte zu einem Programmschwerpunkt des Wiener Filmfestivals Viennale. Unter dem Titel „Tales from the Jungle – Eine kinematographische Expedition in die Tropen“ wurden 13 Kurz- und Langfilme vorgestellt. Der älteste, „Chang: A Drama of Wilderness“ von Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack (den späteren Schöpfern von King Kong) stammt aus dem Jahr 1927, der jüngste, „Worldly Desires“, ein Digitalvideo des thailändischen Regisseurs Apichatpong Weerasethakul, aus dem vergangenen Jahr.
Dazwischen fand Heterogenes Platz. Cinema-Novo-Perspektiven („Amazonas, Amazonas“ von Glauber Rocha, 1966) oder eine ethnografische Erkundung im brasilianischen Regenwald („La guerrre de pacification en Amazonie“ von Yves Billon, 1973), die sich zur Tragödie weitet, da die von Billon gefilmten indigenen Stämme im Begriff zu verschwinden sind, kaum haben ihnen die Weißen den first contact aufgenötigt. Daneben Weerasethakuls bahnbrechender Spielfilm „Sud Pralad“ („Tropical Malady“) von 2004, in dessen zweiter Hälfte der Urwald agiert wie eine Hauptfigur, und schließlich Horror aus Italien: „Cannibal Ferox“ (1980) von Umberto Lenzi, ein krudes C-Movie, das fünf Großstadtbewohner nach Amazonien schickt. Die einen sind im Dienst der Wissenschaft unterwegs, die anderen suchen Smaragde; jene sind sich sicher: Es gibt keinen Kannibalismus, diese entdecken mit Genuss ihre eigene Grausamkeit und überbieten damit die vermeintlichen Kannibalen – bis die es sich doch anders überlegen und der Film sich in eine ziemlich fiese Fleischhauerei verwandelt.
So übertrieben ausgestellt wie in „Cannibal Ferox“ wird der Wahnsinn nicht in jedem Dschungelfilm. Zugleich bietet sich das undurchdringliche Terrain für Geschichten von Irrsinn, Selbstverlust und Selbstpreisgabe an – zum Beispiel in einem Film aus Luis Buñuels mexikanischer Zeit, „La mort en ce jardin“ (1956; der deutsche Verleihtitel mag es deftiger: „Pesthauch des Dschungels“). Er setzt in einem Städtchen am Rand der Zivilisation ein. Es kommt zu einem Aufstand, in dessen Verlauf eine Prostituierte (Simone Signoret), ein Priester (Michel Piccoli), ein Diamantenschürfer, dessen Tochter und ein Gauner (Georges Marchal) so unter Druck geraten, dass sie fliehen müssen: geradewegs in den Dschungel. Übermüdet, verschwitzt, von Insekten gepeinigt, vom tropischen Regen durchnässt und ausgehungert irrt das Grüppchen umher – im Kreis. Einmal erlegen sie eine Riesenschlange, doch bevor das Feuer, auf dem sie das Fleisch zubereiten wollen, angezündet ist, haben sich schon Millionen von Ameisen der Schlange bemächtigt. Die Kamera schaut sich das Gewimmel auf dem Körper des Reptils genau an, wie sie sich einst in „Un chien andalou“ (1929) die aus einer Hand austretenden Ameisen anschaute. Was im Surrealismus durch die Setzung des Künstlers erzeugt wird, wirft der Dschungel wie von selbst aus.
Diese Verschiebung war es, die den kubanischen, zeitweise in Paris lebenden Schriftsteller Alejo Carpentier dazu brachte, den Begriff des „real maravilloso“, des „wirklich Wunderbaren“, zu prägen: Nachdem er in den 40er-Jahren nach Haiti und Venezuela gereist war, war Carpentier so beeindruckt von den Wundern, deren er in Lateinamerika an jeder Straßenecke gewahr wurde, dass er von den artifiziellen Wundern des Surrealismus nichts mehr halten mochte.
Buñuel seinerseits notierte in seinen Memoiren, dass während der Dreharbeiten zu „Le mort en ce jardin“ am mexikanischen Catemacosee der örtliche Polizeichef den Schauspieler Georges Marchal „zu einer Menschenjagd“ einladen wollte, „als sei es das Natürlichste von der Welt“. Der Schauspieler lehnte selbstredend ab: „Ein paar Stunden später sahen wir die Polizisten wieder vorbeikommen. Der Polizeichef erwähnte, dass die Angelegenheit zufrieden stellend erledigt worden sei.“