: Das graue Geschlecht
DAZWISCHEN Sie ist Synästhetikerin, Autistin und intersexuell. „Im Kopf falsch geschaltet.“ Lange glaubt sie, sie sei der einzige denkende Mensch
AUS ALFELD AN DER LEINE ANNABELLE SEUBERT (TEXT) UND SOPHIE KIRCHNER (FOTOS)
Bei der Trauer ist kein Rot mehr vorhanden, sagt sie, die ihre Umwelt in Farben wahrnimmt. Dafür ist die Trauer zu blau.
Grün könne drin sein, ein leichtes Grün vielleicht. Eigentlich sei es eher eine Mischung aus Grün und Blau, Richtung Türkis und teilweise ins Gelb. Gelb müsse jetzt nicht nur Schmerz sein, es könne auch Veränderung sein, Veränderung habe ja auch mit Schmerz zu tun, man komme aus den eigenen Gewohnheiten heraus. „Das heißt: Gelb ist vorhanden.“ Jessika-Katharina Möller-Langmaack, dreißig, das Gesicht eher kantig, der Körper eher rund, nickt.
Aber, sie schüttelt den Kopf, „was die Tränen angeht: Bei Tränen muss nicht immer Trauer dabei sein“. Fehlen die Tränen, verunsichert das Jessika. „Traurig sieht dann fast genauso aus wie wütend.“
Spott könne sie auch nicht von Freude unterscheiden, ob die Leute über die oder das lachen oder über sie. Besser, man sehe ihnen nicht in die Augen. „Seit ich gelernt habe, Mimik zu interpretieren, muss ich sie ignorieren“, sagt Jessika und sitzt so auf dem Plastikstuhl, dass sie ihren Oberkörper um fünfundvierzig Grad drehen müsste, um die Hände auf dem Tisch ablegen zu können. Sie sitzt, als wolle sie fliehen. Ihr Blick ist längst geflohen, hängen geblieben an der Decke einer dieser Küchen, in der man auch im Sommer zu frieren glaubt. Eine betreute Wohngemeinschaft in Alfeld an der Leine, die Fliesen weiß, auf der Ablage ein Schwamm, der Geschirrspüler rauscht und Jessikas Stimme, mitteltief, nicht männlich, nicht weiblich, hallt doch.
Blau
„Wenn man jetzt trennen würde: Das ist Mann, das ist Frau.“ Sie hebt den linken Zeigefinger, dann den rechten, so, dass dazwischen eine Lücke entsteht. „Dann würde ich halt da stehen.“ Den rechten Zeigefinger schiebt sie zur Mitte, aber nicht ganz. „Ich würde sagen, ich bin über sechzig Prozent Frau. Was Denkweisen angeht, Denkstrukturen vor allem. Handlungsweisen auch.“
Jessikas Chromosomensatz ist XY, also männlich, aber ihr Körper, so sagt sie, könne Testosteron nicht gut annehmen, und mit zwölf seien ihr Brüste gewachsen. Sie vermutet, dass sie damals hormonell behandelt wurde, aber sie weiß es nicht, die Eltern erzählen nicht gern. Die Eltern, Jessika hält ihre langen, blonden Haare hinter dem Kopf zusammen, eine abrupte Bewegung, nichts Weiches darin, hätten ihre eigenen Schwierigkeiten. „Ich hab ihnen gesagt, wie es ist. Verstanden haben sie es nicht.“ Sie hastet beim Reden, übergeht die letzten Worte im Satz, bis zum nächsten Satz dauert es oft, aber dann klingt er, als falle er die Tonleiter herunter.
„Es ist ja so, dass es wohl keiner richtig versteht.“ Es ist so, dass Jessika intersexuell ist und Synästhetikerin. Sie ist weder Mann noch Frau und sieht Geräusche und Gefühle als Farben. Sie hat auch das Asperger-Syndrom, eine Form des Autismus.
Jessika sagt: „Ich bin im Kopf falsch geschaltet.“ Und dass sie sich als einziges denkendes Lebewesen empfunden habe, bis sie sechzehn war. „Alle anderen liefen als Hüllen durch die Gegend.“ Sie würde ihre Schulzeit in der Nähe von Kiel gern als tiefschwarz bezeichnen, weil Schwarz aber eine ruhige Farbe ist, würde sie sie doch eher unter Karminrot einordnen. „Wobei Karminrot wieder schön sein kann. Es ist eher so orange, mit einem blauen Touch.“
Rot
Jugendpsychiater hätten ihr langsam dabei geholfen, auch andere Menschen als Lebensformen zu verstehen. „So wie Tiere“, sagt sie, sie ist aufgestanden, um den Auflauf aus dem Ofen zu holen, der seinen Geruch schon eine Weile verströmt, Sahne, Schmand, Fett. „Ich bin auch ein Tier, ich sehe das genauso, ich sehe mich als Tier, wir sind alles Tiere, ich bin ein Holsteiner, ein Kaltblüter, träge und lustlos manchmal, aber sofort wach, wenn es ums Essen geht.“ Jessika lacht, es ist das erste Mal. „Oder darum, zu entdecken.“
Sie hat jetzt den Teller mit dem Auflauf vor sich auf dem Tisch und die Hygieneregeln des Heims neben sich an der Wand. Sie erzählt von ihrem Lieblingsbuch, der Blick klebt sich ans Besteck. „Diese Fantasiegeschichte, die da abläuft in ‚Sofies Welt‘, die find ich gar nicht so weit hergeholt. Für mich ist klar, dass es etwas Größeres gibt. Es gibt etwas Kleineres, also muss es etwas Größeres geben.“
Einen Grauton, zum Beispiel. „Das wäre schon ein Fortschritt, wenn man den zulassen würde.“ Jessika wird lauter, sie will jetzt reden. „Wenn man zwei Schaltzustände hat, ist es einfacher, gewisse Dinge schwarz und weiß, mit Ja oder Nein zu erklären. Nach dem Motto: Ist es ein Mann oder eine Frau? Binär, null oder eins? Ich finde eigentlich, das dritte Geschlecht wäre viel offener erklärt, wenn wir über die Schaltzustände nicht binär, sondern hexadezimal denken würden.“ Eine hexadezimale Zahl hat 16 Ziffern und kann 16 Zustände abbilden.
Die Ärzte haben immer binär über ihre Intersexualität gedacht. Darum würde Jessika gern ein Abendgymnasium besuchen, studieren und in die Forschung gehen; sie glaubt, dass sie Neues herausfinden könnte, auch über sich – und sie versteht nicht, warum Ärzte, die zwanzig Semester hinter sich haben, die Begriffe „Intersex“ und „Intersexualität“ vermischen. „Intersex ist der körperliche Zustand, Intersexualität der psychische.“ Sie nimmt sich noch eine Portion, „ich bin beides“, sagt sie dabei. Es kündigt sich nie an, wenn Jessika ihren Stuhl nach hinten schiebt, es passiert einfach.
„Ich bin unberechenbar“, sagt sie. „Ich weiß nicht, was anderen guttut. Ich weiß nicht, wann ich andere überfordere und wann Schluss sein muss. Ich weiß nicht, wann ich Menschen langweile, und kriege nicht mit, wenn ich ihnen wehtue.“ In ihrer lesbischen Beziehung sei das schwierig, die Freundin habe zwar so für sich angenommen, dass Jessika eine Frau ist, und es lebe sich auch leichter seit der Asperger- und Intersexualitätsdiagnose im letzten Jahr, seit ihr Anderssein einen Namen hat. Aber dann gebe es auch solche Momente wie kürzlich, als ihre Freundin aus Eifersucht geweint hat am Telefon und Jessika nicht wusste, wie sie reagieren soll. „Das Einzige, was ich in solchen Situationen gern tue, um aus ihnen herauszukommen“, Jessika schiebt den Teller von sich: „Ich lache.“
Selbstzweifel: „Eher ins Blau als ins Schwarz.“
Liebe: „Ein sehr warmes Rot. Mit ein bisschen Grün drin. Es pulsiert ganz, ganz leicht. Wie eine Massage im Zwei-Hertz-Frequenzbereich. Oder noch mehr, zwei Komma fünf.“
Wenn Jessika heute Unterlagen ausfüllen und ihr Geschlecht darauf angeben muss, lässt sie die Kästchen offen. „Ich sag dann: Machen Sie doch das Kreuz so, wie Sie mich einschätzen. Dann sagen die: Was soll das? Dann sag ich: Ich bin nichts von dem, was da steht.“ Einmal hat sie einer gefragt, als was sie sich denn selbst sieht. Sie hat das Kreuz zwischen Mann und Frau gesetzt.
Lila
„Meine Wohlfühlfarbe ist Lila“, sagt sie. „Wenn Blau und Rot nebeneinanderstehen und das Auge nicht in der Lage ist, eine klare Trennung zu erkennen, das mag ich.“
Und was noch?
Der Geschirrspüler hat aufgehört zu rauschen. Jessika räumt ihn aus, wahrscheinlich ist sie froh darüber, alles dort hinstellen zu können, wo sie es kennt.
„Neulich war das Blech aus dem Ofen verschwunden.“ Es dauert bis zu ihrem nächsten Satz. „Das irritiert mich. Ich weiß dann nicht, wie ich mein Essen machen soll.“
Routine mag sie, sagt sie. „Ich mag Musik, wenn sie eine Stimmung unterstützt und nicht bestimmt. Ich mag auch Wasser, weil es eine gewisse Oberflächenspannung hat, aber tiefgründig ist und viele, viele Zustände annehmen kann, Wasser ist flüssig, sanft und hat Übergangsformen, heiß und kalt. Ich mag frisch gemähte Felder, ein frisch gemähtes Kornfeld ist anders als ein frisch gemähtes Rapsfeld, ich mag, mir den Wald von oben anzusehen, wenn ich im Flugzeug drüberfliege. Überhaupt Natur, sie funktioniert einfach, ohne dass man etwas dazutun muss, und wenn man etwas dazutut, dann beschwert sie sich meistens, indem sie eingeht. Ich finde gut, das als Feedback zu haben, wenn man etwas falsch macht, dass es dann kaputtgeht. Ich mag, wie eine gerade ausgepackte Pizza riecht. Frische Bettwäsche. Oder eine frisch geteerte Straße. Wenn man Elektronik zugeschickt bekommt, die Originalverpackung, wenn man die aufmacht, der Duft von Elektronik. Schweiß mag ich an sich nicht, aber wenn es frischer Schweiß ist, kann ich den ganz gerne riechen. Das Meer. Auch sehr schön. Ich mag, dass ich fähig bin, Flächen wahrzunehmen. Also Oberflächen. So eine glatte Oberfläche wie der Tisch hier ist langweilig. Die Kante am Tisch ist viel interessanter. Weil man etwas spürt, wenn man über sie fährt. Widerstand.“
Jessika sagt, sie hat Angst vor der totalen Gefühlsfinsternis. Wie ist das dann mit den Tränen bei ihr, die ja bei der Trauer nicht dabei sein müssen, weinst du ab und zu?
„Ja“, antwortet Jessika-Katharina Möller-Langmaack. „Wenn’s mir zu blau wird.“