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Archiv-Artikel

Familienbild mit Grenze

„Das Herz von Jenin“ von Leon Geller und Marcus Vetter

VON WILFRIED HIPPEN

Was für eine unglaubliche Geschichte: Der Vater des zwölfjährigen Palästinenserjungen Ahmed, der 2005 von einem israelischen Soldaten erschossen wurde, gibt seine Zustimmung dazu, dass die Organe seines Sohns anderen Kindern in Israel verpflanzt werden. Der israelische Filmemacher Leon Geller war eher zufällig mit seiner Kamera dabei und filmte im Stil einer konventionellen Reportage.

So steht im ersten Akt des Films das schiere, herzzerreißende Drama im Vordergrund. Nicht nur an der teilweise leicht aufdringlichen Filmmusik merkt man, dass hier auf der großen Tastatur des Gefühlskinos gespielt wird und der Vater Ismael Khabib wirkt fast schon zwangsläufig wie „der gute Mensch von Jenin“. Geller zeigte seine Aufnahmen 2006 auf dem Talentcampus der Berlinale und traf dort den deutschen Regisseur Marcus Vetter. Die beiden begannen 2007 ihre eigentliche Arbeit am Film. Dieser bekommt eine ganz andere Komplexität und analytische Schärfe, wenn sich die Aufregung gelegt hat und das Filmteam Ismael dabei begleitet, wie er versucht, die Kinder, in denen ein Teil von seinem Sohn weiterlebt, zu besuchen.

So macht die schroffe Behandlung seiner Familie an einem Grenzposten, durch den sie zu einer Gedenkfeier in Israel reisen wollen spürbar, wie beklemmend die alltägliche Atmosphäre ist, unter der die Palästinenser in der Besetzung leben. Und wenn Ismael erzählt, dass er seine Tat auch als einen Akt des politischen Widerstands versteht („Glaubst Du, die Israelis haben das gerne gesehen?“) zeigt sich, wie vielschichtig seine Persönlichkeit ist. Dieser Protagonist ist ein Glücksfall für die beiden Filmemacher: er hat eine beeindruckende Präsenz vor der Kamera, ist eloquent und steht im Fokus einer Geschichte, die ihn in ganz unterschiedliche Milieus Israels führt. Wenn er nach zwei Jahren ein Drusenmädchen, einen Beduinenjungen und die Tochter eines orthodoxen Juden besucht, die verbindet, dass sie alle durch die Organe von Achmed gesund wurden, erlebt er dabei außergewöhnliche Situationen und Begegnungen, bei denen man nie das Gefühl hat, sie würden für die Kamera inszeniert.

Der Film beinhaltet so unterschiedliche Sequenzen wie ein ausgelassenes Bad von Ahmed im Toten Meer (das dieser bei dieser Reise zum ersten Mal sieht) und die Montage des Videos eines palästinensischen Selbstmordattentäters und Aufnahmen von seinen Opfern. Alle Szenen sind mit einem genauen Blick aufs Detail und einem sicheren Gespür für die Wirkung des Gezeigten inszeniert. Deshalb reißen auch die extrem Kontraste den Film nie auseinander.

Stattdessen spürt man bei aller Kunstfertigkeit immer die Dringlichkeit, mit der die Regisseure die Geschichte erzählen wollen. Und weil sie so nah an den Personen blieben, gelinge ihnen auch so ambivalente Sequenzen wie der Besuch von Ismael bei dem orthodoxen Juden.

Ein zugleich bewegender und kluger Film über eine große Geschichte, die sich mit den Kindern und Ismael in der Zukunft weiterentwickeln wird. Selten gab es eine bessere Gelegenheit für eine Langzeitbeobachtung nach dem Modell des Jahrzehnte umspannenden Defa-Projekts „Die Kinder von Golzow“.