: „Ich bin immer noch eine von uns“
Güner Balci wurde 1975 im Berliner Bezirk Neukölln geboren und wuchs dort auch auf. Sie studierte nach dem Abitur Erziehungs- und Literaturwissenschaften.Sie kennt ihren Stoff aus eigener Anschauung: Die gewann sie im Modellprojekt „Kiezorientierte Gewalt- und Kriminalitätsprävention“ in einem sozialen Brennpunkt ihres Quartiers, im Rollbergviertel, sowie im Mädchentreff MaDonna mit Jugendlichen aus türkischen und arabischen Familien.Sie arbeitet inzwischen als Redakteurin für das ZDF-Magazin „Frontal21“. Güner Balcis Buch „Arabboy: Eine Jugend in Deutschland oder Das kurze Leben des Rashid A.“ erschien im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008, 288 Seiten, 14,90 Euro.
Kommt die Sprache auf Gewalt in unmündigen Verhältnissen, weiß Güner Balci, wovon die Rede ist. Über das Leben in Berlin-Neukölln hat sie ein Buch geschrieben: „Arabboy. Eine Jugend in Deutschland“. Ein Gespräch über die Härten des Lebens und wie man ihnen entrinnt
INTERVIEW MARTIN REICHERT & AMÉLIE LOSIER (FOTOS)
Güner Balci hat sich leicht verspätet, sie hatte noch „einen Dreh“ für das ZDF und kommt aus dem Studio des Senders im Zollernhof Unter den Linden. Kein Problem, man kennt die Hast ihres Gewerbes. Verabredet sind wir in einem Café, ebenfalls in Berlins Mitte. Es hat, typisch für ebendieses Quartier, alles, was man in dieser Gegend der Hauptstadt zum Leben braucht. Koffeinhaltige Heißgetränke mit viel aufgeschäumter Milch und mediterrane Leckereien, zu denen sich Printmedien als Lektüre anbieten, oder Gesprächspartner aus der Szeneeinwohnerschaft, die gern in medialen und künstlerischen Berufen ihr Brot verdient.
taz.mag: Frau Balci, Sie wohnen nicht mehr in Ihrem Berliner Heimatviertel, dem berüchtigten Neukölln, sondern in der hippen Mitte. Nervt es Sie nicht, dass das hier eigentlich auch eine sogenannte Parallelgesellschaft, eine abgeschottete Gesellschaft, ist?
Güner Balci: Doch, extrem. Ist ganz schön anstrengend, manchmal. Es ist ja nie gut, wenn es keine gemischte Gesellschaft ist, egal wo.
Bürgerliche Mittelschicht, die in „Kreativberufen“ tätig ist – Ihr neuer Kiez fällt schon auf.
Total. Vor zwanzig Jahren war das in Berlin noch anders. Klar, es gab immer soziale Randgruppen, aber dass sich das so abspaltet, das gab’s früher nicht. Hier in Mitte, das ist ja auch so ein spezielles Völkchen. Leute, die ihre Kinder schon im Alter von drei Jahren drei- bis viersprachig erziehen. Und auf der anderen Seite hast du dann in Neukölln wirklich nur noch Migrantenfamilien ohne Aussicht auf Bildung für ihre Kinder.
Und „Kreuzkölln“ an der Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln? Sieht man dort nicht dies: „Durchmischung ist lebbar“?
Das sind kleine Inseln. Wenn man zum Beispiel in die Kneipe „Freies Neukölln“ geht oder in eines dieser anderen hippen Cafés, da mischt sich gar nicht nichts. Kleine Straßenzüge, die sich Künstler und Intellektuelle abgesteckt haben. Aber wie viel Kontakt haben die denn zu den anderen Menschen? Null!
Es gibt Shisha-Lounges für Deutsche und solche für Araber. Wie wirken denn diese Deutschen auf die Araber?
Das sind dann so Studenten, Alternative. Die sind ganz nett und harmlos, aber die sollen dann eben ihr Ding machen. Man findet das zwar befremdlich, dass die jetzt hier in der Nachbarschaft sind. Aber man hat nichts mit ihnen zu tun. Aber wenigstens sieht man sich überhaupt mal gegenseitig – beim Bäcker zum Beispiel.
Man kommt ja auch als ureingeborener Deutscher ziemlich schwer in Kontakt mit diesen Nachbarn – selbst, wenn man guten Willens ist.
Man gehört einfach nicht zu ihrer Lebenswelt. Wenn Sie in ein Shisha-Café gehen, dann wird man schon nett und gastfreundlich zu Ihnen sein, aber was gibt es denn wirklich Verbindendes? Redet man halt mal über das Wetter oder vielleicht über Angela Merkel.
Smalltalk als Einstieg, warum nicht?
Nein, kein Problem. Aber man kommt nie wirklich in Kontakt. Die heute typischen Neuköllner haben Kontakt meist mit ihrer Familie und ihren Verwandten. Es gibt da nicht die Idee, dass man über die Familie hinaus einen Freundeskreis unterhält. Wenn da mal ein netter Deutscher reinkommt, dann redet man mal mit dem und stellt sich ein bisschen dar – die meisten von denen suchen ja ohnehin nur ein Stück Folklore. Die Leute im „Freies Neukölln“ machen sich nicht wirklich Gedanken, wie es wohl in den türkischen und arabischen Familien zugeht. Die fragen sich auch nie, warum man deren Töchter nie auf der Straße oder in den Cafés sieht. Die Sonne geht unter, die Frauen verschwinden.
Dafür sind die Straßen dann voller Jungs. Weil sie rausdürfen oder weil sie -müssen?
Sie dürfen, aber zu Hause haben sie ja auch keinen Raum, kein eigenes Zimmer – dort regieren die Frauen. Zudem haben die Jungs zu Hause ja auch keine ernsthafte Beschäftigung – Hausaufgabenmachen zum Beispiel. Diese bürgerliche Vorstellung existiert dort nicht: dass man nach Hause kommt, dort mal zur Ruhe findet und sich besinnt. Was zählt, ist das Draußen. Das Abenteuer! Und die Geschichten über sie will man nicht auch noch nach Hause schleppen.
Gibt es nicht neutrale Begegnungszonen, zum Beispiel McDonald’s am Hermannplatz?
(lacht laut) Ja!
Na ja, da sitzen dann alle zusammen und essen.
Da beäugt man sich mal, stimmt. Ist eben für viele auch ungewöhnlich, wenn da eine Gruppe schwarzhaariger Jungs an einem Tisch sitzt und lärmt. Das wirkt für viele bedrohlich. Manchmal glotzen sie einen auch sehr eindringlich an, neugierig. Es gibt dann ja schon ein gegenseitiges Interesse.
Wenn man Ihr Buch liest, fühlt man sich nicht gerade ermutigt, in Kontakt zu treten. Menschen, die von Gewalt geprägt sind und bereit sind, Gewalt auszuüben – da würde man sich dann schon Sorgen machen, wenn die eigene Tochter mit einem Araber zusammenkommt.
Na ja, da gibt’s durchaus ein Problem. Besonders, weil die deutschen Eltern so überhaupt nicht mit den Denkstrukturen arabischer oder türkischer Familien vertraut sind. Den Begriff der Ehre zum Beispiel gibt es in diesem Sinne in der deutschen Gesellschaft ja gar nicht. Jedenfalls nicht mehr in dieser Form. Deutsche Eltern sind meistens überfordert, wenn ihre Tochter mit einem muslimischen Jungen kommt.
Vielleicht wollen sie nur vorurteilslos sein?
Bedenkenlos sollten sie jedenfalls nicht sein. Sie müssen sofort den Jungen kennen lernen und dann die Eltern. In dem Moment, in dem der Junge sagt: „Das geht auf keinen Fall“, müssen die Eltern handeln, wenn sie nicht wollen, dass ihre Tochter unglücklich wird.
Was sollen sie denn machen?
Einfordern, dass ihre Tochter mit Respekt behandelt wird. Das muss man bei dem jungen Mann auch einfordern – und sich eben darüber informieren, welches Frauenbild in dem jeweiligen Kulturkreis vorherrscht. Auch wenn man am Ende vielleicht Gefahr läuft …
… einen total aufgeschlossenen, liberalen Jungen …
… vor sich zu haben und sich in ihm, gut gemeint, zu irren. Eigentlich macht man das ja auch mit jedem Schwiegersohn, auch wenn Religion da in der Regel kein Diskussionsthema ist.
In den Achtzigern ja schon noch, da konnte es durchaus zum Problem werden, wenn ein protestantischer Mann eine katholische Frau auf dem Lande ehelichen wollte.
Klar. Und je nach Milieu gibt es natürlich auch ureingeborene Deutsche, die mit Mädchen respektlos umgehen.
Junge Deutsche in den Großstädten ahmen nicht nur den Kleidungsstil junger MigrantInnen nach – Picaldi, Ed Hardy –, sondern übernehmen auch deren Jargon. Können Sie uns dieses Phänomen deuten?
Mit dem Jargon kommt man auch nah an die Jugendlichen ran, wenn man so spricht. Mittlerweile bin ich ja auch schon etwas älter und habe ein paar graue Haare – da erwarten die das nicht mehr von mir, da sind die dann überrascht, wenn ich ihren Slang spreche.
Sie sind ja jetzt auch nicht mehr Sozialarbeiterin im Neuköllner Mädchentreff, sondern ZDF-Journalistin und Buchautorin – wie geht Ihr Umfeld damit um? Mit Stolz?
Ja, sehr. Blöd fanden sie allerdings meist meine islamkritischen Beiträge, meine Kritik an der Migrationsgesellschaft. Da haben sie mich immer wieder angesprochen, dass ich sie schlechtmachen würde. Trotzdem war es zwischen denen und mir immer ein vernünftiges Gespräch. Denn ich bin immer noch eine von uns. Das ist ja jetzt nicht so, dass ich sage: „Jetzt habe ich den Absprung geschafft, bin weg von euch und will mit euch nichts mehr zu tun haben.“ Mit den Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, verbindet mich ja etwas, ein anderer Humor, eine andere Sprache – ein anderes Leben auch. Das ist für mich kostbar.
Ein Teil Ihrer Identität?
Ja, eine andere Sprache, ein anderer Humor, eine andere Verbundenheit. Das ist ganz anders, als wenn ich jetzt mit meinen Kollegen vom ZDF abends mal in Mitte unterwegs bin. Eine Kommunikation zum Teil ohne Worte.
Was ist das für ein Humor?
Der muss eben nicht immer tiefsinnig sein, sondern ganz banal oder auch mal derb. In akademischen Kreisen würde man sich nicht die Blöße geben, über so was zu lachen – es sei denn, man ist betrunken oder so.
Ist das dann nicht so ähnlich, als ob jemand von einem Bauernhof in Ostwestfalen kommt und dann in Berlin-Mitte lebt und mehr so Caffè-latte-Gespräche führt?
So ist das. Genau so. Aber diese Leute sind dann eben zum Teil türkisch- oder arabischstämmig oder kommen ursprünglich aus Afrika. Wenn man in den Vierteln, wo diese Menschen vor allem leben, gemeinsam groß geworden ist, verbindet einen eben ein ähnliches Heimatgefühl.
Sogenannte Abiturtürken finden, dass Frauen wie Necla Kelek oder Seyran Ates „alles kaputtmachen“.
Was machen die denn kaputt? Die machen auf Dinge aufmerksam, auf die man eben zeigen muss. Den sogenannten Abiturtürken geht es offenbar nur darum, dass niemand nestbeschmutzt. Die schicke Fassade soll aufrechterhalten werden. Ich nenne die auch Hollywoodtürken.
Oder ZDF-Türken.
(lacht) Da gibt es ja nicht so viele, zwei vielleicht.
Geht es insgeheim womöglich darum, dass es bestimmte Dinge gibt, die bitte in der Familie bleiben sollen – über die man „draußen“ in der Mehrheitsgesellschaft nichts erfahren soll?
Ein Image soll aufrechterhalten werden. Wir sind die ordentlichen, fleißigen Gastarbeitertürken. Da gibt es vielleicht mal einen Ehrenmord oder eine Zwangsehe, aber eigentlich sind wir doch vernünftige Menschen, durch die Bank. Und jetzt kommen da zwei Hexen und machen alles kaputt. In der Türkei ist das mittlerweile ein viel größeres Thema als hier, auch Prominente äußern sich, das Thema wird in Vormittagstalkshows behandelt.
Warum ist das so ein Problem für „Abiturtürken“?
Die, die es geschafft haben, haben meist ein Identitätsproblem. Es kommt eben immer darauf an, aus welchem Milieu sie kommen, was sie für Eltern hatten, als sie herkamen oder hier geboren wurden. Manche erfolgreiche türkischstämmige Geschäftsleute verleugnen diese Wurzeln dann – das ist auch verlogen.
Und woher die krasse Abneigung gegen Seyran Ates und Necla Kelek?
Die Probleme, über die beide sprechen, sind für viele Probleme einer „bäuerlichen“ Gesellschaft. Sie brüsten sich und sagen: „Wir, die gebildeten Kemalisten aus Istanbul, bei uns gibt’s das nicht!“
Könnte doch sein, oder?
Das ist aber eine Lüge, alle von Kelek und Ates benannten Probleme findet man in allen Gesellschaftsschichten der Türkei. Es stimmt eben auch nicht, dass die Frauenrechte seit Atatürk immer hochgehalten wurden. Wenn man da mal dran kratzt, sieht man schnell, dass es da noch Nachholbedürfnisse gibt, sowohl was die Frauen- als auch was die Menschenrechte angeht. Letztlich ist die Türkei eine männerbestimmte Gesellschaft, in der Frauen auch mal Führungsaufgaben übernehmen dürfen.
In der Debatte wird das aber immer gegengeschnitten: auf der einen Seite das moderne, westliche Istanbul, auf der anderen Seite die Bauern Anatoliens, viele von ihnen nach Deutschland eingewandert.
Totaler Quatsch! In Istanbul gibt es eine schicke Einkaufsstraße und Reiche in ihren Nobelvierteln. Aber man muss eben nur um die Ecke gehen, und schon sieht man sie wieder: die Frauen, die hinter den Männern herlaufen und nachts nicht alleine auf die Straße dürfen. Auf die asiatische Seite Istanbuls geht ja sowieso niemand, und wenn, dann nur zu dieser einen großen Shoppingmeile dort. Das moderne Istanbul ist dann eher Intellektuellen vorbehalten – eine lautstarke Minderheit.
Trifft zu, dass die meisten türkischstämmigen Menschen hier in Deutschland aus Anatolien stammen?
Ja, da gibt es ja ganz konkrete Zahlen, das stimmt. Es gibt eben auch kaum türkische Akademiker, die nach Deutschland einwandern, weil sie hier bessere Jobchancen hätten. Da geht man eher nach Amerika. Bäuerliche Strukturen, das heißt aber ja auch: Sie sind hierher gekommen, damit es ihnen mal besser geht. Das ist ja erst mal ein guter Ansatz – wenn er dann auch noch mit einem Bildungsanspruch verbunden wäre.
Wenn man Ihr Buch liest, hat man das Gefühl, dass es gar keine Möglichkeiten gibt, der Traum von erfolgreicher Einwanderung könne wahr werden. Wie kann man den Menschen helfen?
Bei den Älteren geht es jetzt, glaube ich, nur noch darum, dass sie einigermaßen gut versorgt sind im Alter. Aber ansonsten ist diese Generation eher der Meinung, dass sie nun ihre Pflicht getan hat. Zum Teil leben sie auch schon halb in der Türkei – die sieht man ja auch kaum im öffentlichen Leben Deutschlands. Häufig sind sie auch krank, weil sie immer viel gearbeitet haben und wenig Geld hatten. Es ist wichtig, dass man die Menschen erreicht, die hier in Deutschland zur Welt gekommen sind.
Und wie geht das?
Ebendiese Menschen gehören noch immer nicht zur deutschen Gesellschaft. Sie betrachten sich auch selbst nicht so. Man muss deutlicher machen, dass all diese Aishes und Tareks – und wie sie alle heißen – Teil dieser deutschen Gesellschaft sind. Was sollen sie denn auch sonst sein: Sie sind hier geboren und aufgewachsen! Statt immer nur ihre besonderen kulturellen Eigenheiten zu betonen, sollte man sie genauso in die Verantwortung nehmen wie alle anderen auch.
War das bei Ihnen auch so?
Nicht von Seiten meiner Eltern. In der Schule wurde mir klargemacht, dass ich Türkin bin, von deutscher Seite. Aber auch von der türkischen Community wurde Druck ausgeübt – da wird dann sehr genau hingeschaut, wie türkisch man denn nun eigentlich ist. Da wurde ich immer diskriminiert, weil meine Türkischkenntnisse schlecht sind. Als Kind habe ich dann auch einen türkischen Pass bekommen – das fand ich dann schon seltsam, weil ich ja zu diesem Zeitpunkt noch nie in der Türkei gewesen war.
Sie sind hier geboren.
Ja. Ich bin eine Zaza, das ist wiederum eine Minderheit, eine eigene Sprache, eine eigene Kultur innerhalb der Türkei. Was das bedeutet, wurde mir aber auch erst nach und nach von meinen Eltern vermittelt.
Hätte Ihr Buch auch „Türkboy“ statt „Arabboy“ heißen können?
Klar, unbedingt. Es heißt bloß „Arabboy“, weil ich in meiner Zeit als Sozialarbeiterin im Neuköllner MaDonna-Mädchentreff eben viel mit arabischen Jugendlichen gearbeitet habe, aber bei den türkischen Jungs passiert genau das Gleiche. In jeder Randgruppe differenziert sich das eben aus, die einen tragen Kopftuch, die anderen nicht. Bei der arabischen Community der Unterschicht gibt es eigentlich gar keine emanzipierten Frauen, bei den Türken gibt es dann schon mal welche, die noch arbeiten dürfen. Da gibt es so kleine Differenzen, aber sonst – die Restriktionen sind die gleichen.
Wenn wir von den jungen Menschen ausgehen, die Sie in Ihrem Buch beschreiben: Geht es nicht auch darum, dass diese riskieren müssten, auf sich gestellt zu sein, wenn sie ihr eigenes Leben leben wollen – zur Not ohne die Familie?
Das ist tatsächlich das größte Problem. Sie haben wahnsinnige Angst, alleine zu sein. Sie haben auch nicht gelernt, ein eigenes Leben zu haben, eines zu entwickeln. Das deutsche Modell, das ist ihnen zu fremd.
„Die haben alle keine Familie“, heißt es.
Keine Bindung, alle sind Einzelgänger. Die einsamen Deutschen, die keine Kinder bekommen – ja, so lauten die Klischees.
Klingt jedenfalls nicht attraktiv.
Freiheit ist immer gefährlich. Man könnte falsche Entscheidungen treffen, zum Beispiel vorehelichen Geschlechtsverkehr haben …
… riskant!
Besonders für die Mädchen, weil das dann nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die gelten dann als dreckig. Die Jungs dürften das schon eher, sollten aber auch eine ernsthafte Beziehung eingehen wollen.
Der Hermannplatz ist ein Platz im Berliner Bezirk Neukölln nahe dessen äußerem Nordende. Die Seite des Platzes, auf der das Kaufhaus Karstadt steht, zählt schon zu Friedrichshain-Kreuzberg – ein Ort als Schnittstelle zwischen einem angesehenen und einem als fast verloren gegebenen Quartier. Spätestens seit März 2006 ist Neukölln bundesweit im Gespräch: In einem Brief an die Berliner Senatsverwaltung forderten die Lehrer der Neuköllner Rütlischule die Auflösung der Schule in ihrer damaligen Zusammensetzung. Sprachbarrieren und Gewalt hätten das Unterrichten unmöglich gemacht. Dies führte zu einer innenpolitischen Debatte über das Schulsystem in Deutschland, Gewalt an Schulen und Integration von Kindern mit Migrationshintergrund. Heute ist die Schule – zumal nach einem Besuch von Bundespräsident Horst Köhler – wegen ihrer zahlreichen Projekte der neue Liebling der Bildungspolitik. MaDonna Mädchenkult.Ur e. V. ist ein multikultureller Mädchentreffpunkt im Neuköllner Problemkiez Rollbergviertel. MaDonna bietet offene und mobile Kinder- und Jugendarbeit und Beratung (www.madonnamaedchenpower.de). Der von dem Verein organisierten Postkartenaktion „Ehre heißt für die Freiheit meiner Schwester zu kämpfen“ verliehen Sinan und Saithan, zwei muslimische Deutschtürken, ihre Gesichter; beide bekamen dafür 2005 den Panter Preis der taz verliehen. Eine Shisha ist eine Wasserpfeife arabischen Ursprungs. In der Shisha raucht man meist Tabak mit Fruchtaromen oder ähnlichen Geschmacksrichtungen. Shisha-Lounges findet man fast überall in Berlin. Die meisten aber in Neukölln und Kreuzberg. Kreuzkölln bezeichnet ein Gebiet zwischen Kreuzberg und Neukölln, in dem in den letzten Jahren – nicht zuletzt dank üppiger Kulturförderung durch die öffentlichen Haushalte – diverse Kneipen und Galerien Einzug gehalten haben. Caffè latte wird inzwischen überall in Neukölln, unabhängig von kulturellen Unterschieden, serviert. MAB
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Rashid, der Protagonist, erst nach seiner Abschiebung in die Türkei merkt, welche Freiheiten er in Deutschland hatte.
Ja, die Idee der Freiheit in Deutschland wird ja auch immer nur auf Sexualität reduziert und nicht zum Beispiel auf individuelle Bewegungsspielräume, auf ein Leben unabhängig von Familie und Verwandten, mit Privatheit. Es fehlen eigentlich die Ideen, wie man Freiheit umsetzen könnte: Kunst, Musik, seinen Geist trainieren und einsetzen.
Diese Option der Freiheit gibt es also gar nicht?
Bei meinem Protagonisten, Rashid, vermissen viele Leute eine tiefere Ebene, eine Selbstreflexion. Und genau so ist es, diese Ebene fehlt völlig. Diese Jungs haben auch ein ganz merkwürdiges Körpergefühl.
Inwiefern?
Wenn man mit Gewalt aufwächst, verändert sich die Schmerzgrenze. Man tut sich dann mal gegenseitig weh und findet das witzig – weil Schmerz nicht relevant ist. Wenn da jemand eine blutende Nase hat, wird er nicht ernst genommen. Einmal hat mir jemand aus Versehen einen Eimer auf die Nase gehauen, und ich habe unglaublich stark geblutet. Alle haben gelacht, aber niemand kam auf die Idee, mir ein Taschentuch zu geben. Es gibt kein Mitgefühl. Bei den Mädchen ist das genauso: Die geben sich in einem Keller hin. Ihnen ist es völlig egal, wer sie anfasst. Es ist eine andere Körperlichkeit.
Und Zärtlichkeit?
Zärtlichkeit ist „schwul“. Man kann nicht einfach jemanden in den Arm nehmen, nur bestimmte Menschen.
Im Straßenbild sieht man immer Jungs Arm in Arm gehen oder aneinandergekuschelt in der U-Bahn.
Das ist abgefahren, ja. Das wird dann unter Freundschaft verhandelt, „Kumpels“. Aber natürlich ist das eine Form von Erotik, die sie niemals zugeben würden. Sie haben ja auch das Problem, dass sie mit Mädchen nicht befreundet sein dürfen. Es gibt ja nur Schlampen oder die, die zu Hause sind und nicht auf die Straße dürfen.
Also man hilft sich dann eben untereinander?
Homoerotik ist weit verbreitet im muslimischen Kulturkreis. Man ist eben immer mit Männern zusammen.
Weshalb dann Homosexualität ein Problem ist – und offen schwule Männer malträtiert werden.
Sie sagen es. Wenn man sich das näher anschaut, dann begreift man die Zusammenhänge. Sie dürfen jedoch niemals offen zum Thema gemacht werden.
Necla Kelek sagt ja sogar, die Liebe gibt es gar nicht.
So weit würde ich nicht gehen. Wie fast alle Mädchen haben auch muslimische die große Liebe vor Augen. Allerdings hat Liebe wenig Platz, wenn die Eltern entscheiden, wen man heiratet.
Was dann bedeutet, dass man besser daran tut, sich nicht zu verlieben – denn dann wird man ja zwangsläufig unglücklich, oder?
Wenn ein arabisches Mädchen sich entschließen würde, einen deutschen Jungen zu lieben, hätte sie wirklich ein Problem. Aber deutsche Männer gibt es für sie ja gar nicht, sie sind programmiert auf Männer aus ihrem Kulturkreis.
Jemand anderes ist nicht denkbar?
Das Deutsche ist fremd. Und selbst wenn nicht: Wenn sie dann zu einem Deutschen ginge und sagte: „Du, ich habe mich in dich verliebt, aber du müsstest mich bitte entführen wegen meiner Familie“, dann ist der Deutsche natürlich auch überfordert.
Klingt wahnsinnig anstrengend.
Wir hatten einen solchen Fall einmal, am Ende hat der Mann einen Rückzieher gemacht. Wäre dann eh nicht der Richtige gewesen, weil er ja nicht stark genug für eine Entführung gewesen wäre. In dieser Logik geht das in etwa.
Kommen Sie eigentlich, was all diese Logiken angeht, auch manchmal ins Durcheinander zwischen „Herkunftskultur“ und der eigenen, deutschen?
Überhaupt nicht, weil meine Geschwister so denken wie ich und wir unsere Mutter gut bearbeitet haben im Laufe der Jahre. Meine Mutter hatte da schon gewisse Vorstellungen, aber zu einem Zwang wurde das nie. Mein erster Freund war ein Deutscher, mit dem musste sie klarkommen.
Und Ihre Verwandtschaft?
Mit der habe ich relativ wenig Kontakt – die leben eben schon so in ihrer kleinen Welt. Ich hatte auch noch nie einen rein türkischen Freundeskreis. Meine Mutter hat überhaupt erst von uns gelernt, was das ist: ein Freundeskreis! Doch auch die Jungen müssten lernen, was das überhaupt heißt: individuell zu sein.
MARTIN REICHERT, Jahrgang 1973, ist taz.mag-Redakteur. Er lebt selbst im Berliner Viertel „Kreuzkölln“ und geht ab und an in die Kneipe „Freies Neukölln“. AMÉLIE LOSIER, Jahrgang 1976, lebt als Fotografin seit sieben Jahren in Berlin-Prenzlauer Berg