piwik no script img

Archiv-Artikel

Deutsche Indianer

Ein Deutscher gehörte zu den letzten Komantschen, die den Eindringlingen aus Europa Widerstand leisteten. Die Geschichte von Häuptling Hermann Montechema Lehmann

VON UTZ ANHALT

Hermann Lehmann führte ein Leben wie ein Westernfilm. Der deutsche Einwanderersohn kam 1859 in Texas auf die Welt. Seine Eltern waren Mitglieder des „Adelsvereins“, einer Organisation, die Deutschen half, sich in Amerika anzusiedeln. Lehmanns Eltern waren in den Vierzigerjahren aus Hessen ins Hill Country gekommen, ein Gebiet nördlich von San Antonio – das Gebiet der Komantschen. Als Hermann Lehman elf Jahre alt war, entführten Apachen ihn und seinen Bruder. Willie konnte fliehen, Hermann blieb bei den Apachen und hatte Glück.

Der Krieger Carnoviste adoptierte Hermann als seinen eigenen Sohn. Mit seinem Entführer Chevato schloss Hermann Freundschaft. Ab jetzt hieß Hermann En-Dah, White Boy. Er lebte sich in die Kultur der Apachen ein, vergaß seine hessische Familie, trank mit seinen neuen Freunden Tiswin-Bier und Mescal, überfiel mit ihnen andere Indianer, lernte das Überleben in der Wüste, Hirsch- und Kaninchenjagd, das Sammeln von Kakteenfrüchten, lernte, Wasser zu finden, wo die meisten Weißen verdurstet wären, und genoss nach tollkühnen Kriegszügen die Anerkennung seiner Apachengruppe.

Hermann White Boys Leben bestand aus Räubereien und Kämpfen. Leider tötete er während eines Mescal-Besäufnisses einen Medizinmann einer verfeindeten Apachengruppe, die seinen Adoptivvater Carnoviste ermordet hatte. Die Apachenregeln forderten Blut für Blut, und nach der Rache musste Hermann fliehen. Viele Monate versteckte er sich in einem Canyon, dann hielt er die Einsamkeit nicht länger aus. Der deutsche Indianer setzte alles auf eine Karte und suchte Komantschen auf, die Todfeinde der Apachen. Hätten sie ihn als Apachen angesehen, dann hätten sie ihn umgebracht. Doch die mächtigen Komantschen, die die Apachen aus den Prärien von Texas vertrieben hatten, nahmen ihn auf.

Ab jetzt hieß Hermann Montechema, lernte die Sprache der Numunu, wie die Komantschen sich selbst nennen, und lebte unter den Bisonjägern, die als die besten Reiter Amerikas galten und Raubzüge von Nordtexas bis in den Süden Mexikos unternahmen – über tausende von Kilometern. Hermann lernte reiten wie ein Komantsche, seine Feinde ritten in die entgegengesetzte Richtung, wenn sie auf die Spuren seiner Bande trafen. Und er wurde Häuptling, kämpfte mit den Quohada-Komantschen einen Vielfrontenkrieg: gegen die amerikanischen Bisonjäger, die Millionen von Bisons abschlachteten und den Plains-Kulturen damit die Nahrungsgrundlage entzogen, gegen die Texas Rangers und gegen die US Army.

Häuptling Hermann überfiel Mexikaner, stahl Pferde und Rinder. Seine Gruppe gehörte zu den letzten Komantschen im Widerstand gegen die USA, die sich in den Palo Duro Canyon im Texas Panhandle zurückgezogen hatten. Nach dem verlorenen Krieg zur Rettung der Büffel mussten die Komantschen und ihr deutscher Stammesbruder 1875 kapitulieren; die US Army zwang sie in ein Reservat im heutigen Oklahoma.

Seine deutsche Abstammung kam heraus, und der Komantschenschlächter Colonel Mackenzie „befreite“ Hermann. Hermann dachte und fühlte wie ein Komantsche und hatte nicht das geringste Interesse, zu seiner Familie von Texashessen zurückzukehren. Seine Odyssee hatte kein Ende, und die Soldaten brachten ihn nach Friedrichsburg nördlich von San Antonio, zu seinen Eltern und seinem Bruder.

Vor allem Willie machte Hermann mit dem Weg des weißen Mannes vertraut, allerdings zunächst mit wenig Erfolg: Alkoholexzesse und wilde Schlägereien führten dazu, dass die christliche Gemeinschaft, die den „verlorenen Sohn“ mit offenen Armen empfangen hatte, den jungen Wilden wieder hinauswarf. Hermann wurde zuerst Fuhrunternehmer, dann Saloonbesitzer. Die Freiheit der Prärien, die Ritte im weiten Land hatten seinen Charakter geprägt; aus der Sesshaftigkeit und dem bürgerlichen Leben wurde erst einmal nichts. Erst 1890, als er seine zweite Frau kennenlernte, nahm er das harte Los eines Ackerbauern auf sich. Er starb 1932, im Alter von 72 Jahren, als anerkanntes Mitglied der deutschamerikanischen Gesellschaft.

Hermann Montechemas Geschichte klingt fantastischer als Karl Mays Fiktionen von Winnetou und Old Shatterhand, und doch ist sie wahr. Die Frage stellt sich, ob Karl May (1842–1912), der seine Romane um die Zeit der Besiedlung des amerikanischen Westens in den 1870ern und 1880ern schrieb, von Grenzgängern wie Lehmann wusste und ob diese ihn inspirierten. Karl May, der Amerika erst am Ende seines Lebens bereiste, kannte die Literatur über die Indigenen genau. Auch wenn seine Geschichten Fehler aufweisen, sind diese nicht gravierender als in der Ethnologie seiner Zeit. Die deutsche Besiedlung von Texas hatte zur Folge, dass Berichte über die USA in Deutschland im Umlauf waren und eine immense Leserschaft begeisterten. Zu Hermann Montechema äußerte sich Karl May nie; die Forscher streiten aber darüber, ob eine andere wahre Geschichte – die des Apachenführers Cochise und des Scouts Tom Jeffords – das Vorbild für Winnetou und Old Shatterhand abgab.

Cochise war ein Chief der Chiricahua, die in Südarizona lebten. Anfangs kooperierte er mit den Weißen und verkaufte ihnen Holz. Doch als ein Offizier der US Army drei unschuldige Mitglieder von Cochises Familie hängen ließ, begannen die Chiricahua einen Guerillakrieg, der den Verkehr nach Tucson zum Erliegen brachte. Zehn Jahre dauerte der Krieg, kein weißer Siedler war seines Lebens sicher; die Apachen galten den Amerikanern als blutrünstige Tiere.

Tom Jeffords hingegen, ein Scout, war von Cochises Redlichkeit überzeugt und ritt allein zu dessen Hauptlager. Der Apachenhäuptling war so beeindruckt, dass sich zwischen ihm und Jeffords eine Freundschaft entwickelte, die erst mit Cochises Tod 1874 ein Ende fand. Diese Freundschaft war auch die Basis dafür, dass sich der Chiricahua auf Verhandlungen einließ und 1872 einen Friedensvertrag mit General Howard schloss, der ebenfalls bis zu Cochises Lebensende anhielt. Auf dem Sterbebett verabschiedete Cochise seinen Gefährten mit den Worten: „Gute Freunde werden sich wiedersehen.“ Die Parallelen sind deutlich: Zwar ist Winnetou Mescalero und kein Chiricahua, aber er ist Apachenhäuptling; der Rote und der Weiße werden Blutsbrüder, ein Teil der Familie ihres Gegenübers. Mit ein wenig Übertreibung gilt das auch für Jeffords und Cochise. Winnetou stirbt in Old Shatterhands Armen mit dem Gedanken an ein Leben nach dem Tod, ebenso der Chiricahua bei Tom Jeffords. Der sächsische Fantast erfand seinen Winnetou in den 1870er-Jahren, unmittelbar nach Cochises Tod, und die Geschichte des großen Apachenkriegers war in Deutschland bekannt.

Karl May muss man hoch anrechnen, dass er den Widerstand der Indigenen gegen die Zerstörung ihrer Kulturen für legitim erklärte; er stellte sich bewusst gegen den Rassismus auf die Seite der unterdrückten Völker und zeigte sich als Pazifist. Sein Apachenbild stand im Gegensatz zum Stereotyp der USA. Dort galten die Indigenen als Bestien, dort waren auf die Skalpe von Apachen Prämien ausgesetzt, dort ermordeten Lynchmeuten auch friedliche Indigene.

1886 führte der Chiricahua-Medizinmann Geronimo Krieg gegen fünftausend Soldaten auf amerikanischer und dreitausend auf mexikanischer Seite; die Apachen hatten nur wenige Dutzend Krieger – Geronimo war der letzte Indianer im Widerstand gegen die Kolonialmacht USA. Der Apache war der berühmteste Indianer Amerikas, aber auch der meistgeächtete. Hätte Karl May sein Buch über den edlen Wilden Winnetou in Texas oder Arizona veröffentlicht, die dortigen Indianerhasser hätten ihn wohl aufgehängt. Neben dem in Deutschland ohnehin starken Interesse an den American Indians kam Karl May der Umbruch in der Presse gelegen. Deutschland hatte eine der höchsten Alphabetisierungsraten Europas, die neue Gewerbefreiheit und industrielle Drucktechniken hatten Verlagsgründungen zur Folge, insbesondere – gut für den Schriftsteller – in der Unterhaltung. Während Indianerschauen ein Millionenpublikum anzogen, wurden Karl Mays Bücher Bestseller.

Der Autor behauptete nun, er selbst sei Old Shatterhand und hätte alles selbst erlebt – im Unterschied zu Hermann war der Schriftsteller nur in seiner Fantasie ein deutscher Indianer. Seiner Berühmtheit tat das keinen Abbruch; seine Leser hatten den Westen ebenso wenig kennengelernt wie May; und er berichtete von einer exotischen Welt voll Abenteuern, die aufregender war als die erfahrene Alltagsrealität – eine nahezu zeitlose Begeisterung. Wohl nirgendwo außerhalb Amerikas gibt es mehr Wildwest-Hobbyisten und „Wochenendindianer“ als hierzulande.

Geronimo musste für das Pseudonym eines Autonomen herhalten und der Mescalero für den Buback-Nachruf, die Nazis halluzinierten in den Natives den „Kampf um Blut und Boden“, die SED-Oberen imaginierten in ihnen die Speerspitze gegen den US-Imperialismus und ließen die Freizeitrothäute gewähren. „Dusty“, der in Erfurt ein Indian Camp leitet, sagt zum Ursprung seines Interesses an den Natives jedoch nicht: „Ich wollte gegen den Imperialismus kämpfen“, sondern: „Durch Karl May wie bei allen Deutschen“ Und während „friendly texans dressed in lederhosen and dirndles“ das „Wurstfest“, „Gemütlichkeit and German style“ feiern, laufen die hier gebliebenen Verwandten zu den Karl-May-Festspielen.

In den USA ist May kaum bekannt. Politisch aktive Indianer, die Mays Werke kennen, kritisieren zwar die fehlerhaften Darstellungen, würdigen aber sein freundschaftliches Bild von Indianern als gleichberechtigten Menschen und sein humanes Engagement – ein Engagement mit Folgen: Die Wissenschaftlerin und Komantschin Martina Minthorn sagt, dass Deutsche meist ein viel tiefer gehendes Interesse und positivere Vorstellungen von ihren Kulturen hätten als US-Amerikaner. Und das ist auch Karl May zu verdanken.

UTZ ANHALT lebt als Journalist in Hannover. Er verbrachte im vergangenen Jahr mehrere Monate bei den Komantschen und Apachen