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Archiv-Artikel

Normal, anders, stolz

GENE Die Mutter: intersexuell. Das Kind: auch. Diana Hartmanns Familie bewahrte sie vor Zwangs- operationen. Heute kämpft sie dafür, Babys vom OP-Tisch fernzuhalten

Die Fotografin

■ Biografie: Sophie Kirchner wurde 1984 in Berlin geboren und studierte Kommunikationsdesign mit Schwerpunkt Fotografie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg und in Baltimore, USA. Im Mittelpunkt ihres Interesses steht der Mensch. Seit 2012 arbeitet Kirchner als freie Fotografin in Hamburg und Berlin.

■ Porträts: „Grautöne“ heißt Sophie Kirchners fotografische Diplomarbeit, für die sie intersexuelle Menschen im Alltag begleitet hat. „Ich möchte den Betrachter dazu zwingen, genauer hinzuschauen, zu differenzieren und das Fremde nicht in Schablonen zu pressen“, sagt Sophie Kirchner über die Porträts, die dabei entstanden sind. Eine Auswahl der Fotos aus ihrer Arbeit wurde zur Grundlage dieses sonntaz-Dossiers über Intersexualität.

AUS HAMBURG UND BERLIN LUISE STROTHMANN

Familie bezeichnet die Verbindung von mindestens zwei Generationen durch biologische Verwandtschaft. Bei Angehörigen ersten Grades sind die Hälfte der Gene als Folge direkter Abstammung identisch. (Biologisch-genealogischer Familienbegriff)

„Wir Menschen sind nicht die Crème de la Crème der Evolution, auch wenn wir das nicht gern hören.“ Diana Hartmann spricht laut in den Saal, vor ihr siebzig Plätze, siebzehn Zuhörer, links eine Tafel auf Rollen, über dem Notausgang flackert das Licht.

„Das Einmaleins der Intersexualität“ nennt sie ihren Vortrag. Es ist Anfang Juli, die Berliner Studentinnen auf den Stühlen tragen Tops mit schmalen Trägern. Über Hartmanns Brust spannt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Infoquelle“, dazu oft getragene Turnschuhe, eine pink-orange Socke links, eine gelb-orange rechts. Die Dreiviertelhose lässt die dichten, weichen Haare an ihren Beinen frei.

Sie macht eine Pause, das Klappern der Stricknadeln in der letzten Reihe verstummt. „Auf der Erde sind wir New Kids on the Block, uns gibt es erst seit etwa 10.000 Jahren. Wir sind evolutionäre Lebewesen, alles, was wir sind, ist normal.“

Die Suche

Die Person, die das sagt und dann lacht, sie ist alles, was in der Gefahr steht, als anormal einsortiert zu werden: uneheliches Kind einer intersexuellen, jüdischen, deutschen Mutter und eines afroamerikanischen Vaters. Ein schwarzes Baby, selbst zwischengeschlechtlich, weder Junge noch Mädchen, so viel steht schon bei ihrer Geburt fest, 1965 in Franken. Später kommen sehr gute Ergebnisse im IQ-Test dazu und das Asperger-Syndrom, eine Form des Autismus. Dann noch lesbisch, feministisch. Und irgendwann: krebskrank, kastriert.

Wenn Diana Hartmann vor Menschen spricht, wie heute in Berlin, dann geht es weniger um Gesetzesänderungen oder Diskriminierungsmechanismen. Es geht um pränatale Entwicklung, den Aufbau von inneren Geschlechtsorganen, die Gene. Als Erstes müsse man aufklären, sagt sie. Besonders in einer Zeit, in der Menschen nicht mal wüssten, wie der Körper funktioniert, den sie zur Norm erheben.

Sie weiß, dass es unter anderem die Gene sind, die sie zu dem machen, was sie ist. In ihrer Familie gibt es über zwanzig intersexuelle Menschen. Als ihre Mutter sich weigert, das Kind, das mit zwischengeschlechtlichem Genital, mit Vagina und Mikropenis, geboren wurde, operieren zu lassen, kommt es in ein Kinderheim. Sie geht vor Gericht und wandert mit ihrem Baby in die USA aus.

So gut es eben geht, hält die Mutter ihr Kind dort von Ärzten fern, die ihr die Beine auseinanderpressen und ihr Genital vermessen. Diana wächst ohne klare Geschlechterrolle auf, mit dem Warten auf die Pubertät, eine mögliche Vereindeutigung. Ihre Mutter erklärt, wie sie sich als Frau in der Gesellschaft zu verhalten habe und wie als Mann. Wer zahlt die Kinokarte, wer probiert im Restaurant den Wein? Aber darüber, was mit ihr los ist, spricht die Familie nicht.

Hartmann beginnt, in Neuenglands Schulbibliotheken zu suchen. Sie leiht humanbiologische Bücher, erfindet Hausaufgaben, für die sie Werke braucht, die nur für Ältere zugelassen sind. An der Universität wählt sie Neuromedizin als Hauptfach, lernt Latein und Griechisch, die Sprachen der Ärzte. Ihren eigenen Körper, die Mischung aus männlichem und weiblichem Keimdrüsengewebe im Bauch, blendet sie aus, jahrzehntelang. Ihr Inneres meldet sich mit Tumoren an Eierstöcken und Gebärmutter und sie beschließt, wieder zu suchen. Mittlerweile gibt es Internet, und es gibt den Verein Intersexueller Menschen in Hamburg, wo sie wohnt.

Familien sind intime Beziehungssysteme, die sich durch Abgrenzung, Dauerhaftigkeit und Nähe auszeichnen. (Psychologischer Familienbegriff)

„Kann ein Zwitter Sünde sein? Darf ihn niemand kennen, ach, das wär schad’, überall sind Zwitter im Spiel, so viel.“ Die Sopranstimme wird durch den Raum getragen, hoch zur Decke mit den Stuckengeln, Engel ohne Geschlecht. Es ist immer noch Sommer, Christopher-Street-Day-Saison, Zeit des Gay Pride. An diesem Abend mit Zwitter-Chansons und einer Ausstellung in Hamburg soll etwas Neues dazukommen: intersexueller Stolz.

Er ist zunächst noch leise, verletzlich. Diana Hartmann sitzt im Publikum, hört zu, wie Gedichte vorgetragen werden. Dann singt Elisabeth Müller, Hermaphrodit und hochdramatischer Sopran, ein Lied über Ärzte. Auf Kichern türmt sich Glucksen. Diana Hartmann wischt mit dem Finger über ihre Augen.

Aus dem Nebenraum des Pride House dröhnt lauterer Stolz durch die Wände: Ricardo M., Pornobart, Kunstlederslipper, moderiert drüben das Rainbow-Bingo. Es ist schon so, dass es noch Probleme gibt zwischen den Menschen auf beiden Seiten dieser Wand, Leuten, die manchmal behaupten, eine große Familie zu sein, LGBTI – lesbisch, schwul, bi-, trans-, intersexuell. Hartmann möchte nicht angehängt werden, sagt sie. Gerade unter Männern, die Männer begehren, und Frauen, die Frauen begehren, sei nicht vorgesehen, dass sich etwa eine Person mit Penis als lesbisch sehe. „Der Knackpunkt ist: Wie gehen Leute damit um, wenn wir nicht als Unterdrückte in ihren Reihen auftauchen, sondern als lesbische und schwule Intersexuelle?“

Sie ist Anfang vierzig, als sie das erste Mal zum Stammtisch des Vereins Intersexuelle Menschen geht. Eigentlich fällt sie sogar hier aus der Norm – mit ihrem XX-Chromosomensatz und weil sie als Kind nicht zwangsoperiert wurde. Aber Nähe und Verschiedenheit müssen keine Gegner sein. „Hier sind Unpolitische, Politische, Lesben, Schwule, Heteros, Asexuelle. Unfruchtbare, Mütter, Väter“, sagt Diana Hartmann. „Es heißt, wir seien die anderen. Aber wenn man uns sieht, sind wir mehr Gesellschaft als die allermeisten Gruppen.“

Die Verantwortung

Hartmann wird Intersex-Aktivistin. Ihr Ziel: Kinder von den Operationstischen zu bekommen. Sie spricht auf Konferenzen, gibt Workshops für Medizinstudierende. Und sie fotografiert, auch für den Abend im Pride House hat sie Werke ausgesucht: schmerzverzerrte Gesichter, die sich an das Glas eines Scanners drücken, Fotos zwittriger Pflanzen, Kiwi, Akelei, daneben Bilder ihres Körpers, Schamhaar, ihr Genital, für das sie so lang keine Worte fand.

Ihrer Funktion nach wird die Familie als Ort angesehen, an dem Personen füreinander Verantwortung übernehmen. (Soziologischer Familienbegriff)

Diana Hartmann, jetzt im Café auf der Polsterbank, gießt den letzten Schluck Mokka in ihre Tasse. Sie muss los, die jüngste Tochter von der Kita abholen. Hartmann ist Co-Mutter der vier Kinder ihrer früheren Partnerin. Sie war bei den Geburten dabei, spielt ihnen mit Fingerpuppen vor, ist beim Jugendamt als zweite Erziehungsperson vermerkt.

Ist einem Kind zumutbar, dass es zwei Mütter hat und eine davon intersexuell ist?

Ist ein Reihenhaus zumutbar? Ein Bayern-München-Fan als Vater? Eine türkische Großmutter?

„Ich höre jeden Tag: Wir können Intersexkinder nicht unoperiert lassen, die werden doch gehänselt“, sagt Hartmann. „Natürlich werden Kinder gehänselt! Weil sie zu intelligent sind, dicke Brillengläser haben. Dass ein Kind Diskriminierung erfährt, liegt daran, dass ich es als Elternteil nicht beschützt habe.“

Was Familie angeht, ist dies Hartmanns wichtigste Lektion. Ihre Mutter hat sie ihr beigebracht, an Tagen, an denen sie als Kind nach Hause kam und weinte, weil sie jemand wegen ihrer Hautfarbe beleidigt hatte. „Wenn ich eine Mutter gehabt hätte, die mit mir geheult und mir gesagt hätte: da müssen wir die Schule wechseln, hätte ich gedacht, die Gesellschaft ist mächtig und ich kann nichts tun.“ Aber ihre Mutter fuhr in die Schule und fragte, was denn das Problem sei.