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Archiv-Artikel

„Uns wurde das Todesurteil gesprochen“

Die Angst, nicht mehr zu sein, ist ein Grundpfeiler der israelischen Erfahrung, sagt der israelische Schriftsteller David Grossman

DAVID GROSSMAN

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Sein Leben: Der israelische Schriftsteller wurde am 25. Januar 1954 in Jerusalem geboren. An der Hebräischen Universität studierte er Philosophie und Theater und arbeitete danach als Korrespondent und Moderator für die öffentlich-rechtliche Hörfunkanstalt Kol Israel. Als Friedensaktivist forderten er, Abraham B. Jehoshua und Amos Oz 2006 von Israels Regierungschef Ehud Olmert eine sofortige Beendigung der Kämpfe im Libanon. Am 12. August im selbigen Jahr starb Grossmans Sohn Uri im Südlibanon bei einem Einsatz. Der Autor lebt in Mevaseret Zion, einem Vorort von Jerusalem. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Sein Werk: David Grossman ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Seine Bücher wurden in über 25 Sprachen übersetzt. Neben den populären Büchern „Zickzackkind“ (2000), „Wohin du mich führst“ (2001), „Diesen Krieg kann keiner gewinnen“ (2003) und „Das Gedächtnis der Haut“ (2004), verfasste er mehrere Kinderbücher und Theaterstücke und ist als Journalist tätig. Zu seinen Auszeichnungen gehören unter anderem der Nelly-Sachs-Preis, der Mount Zion Award, der Wingate Literary Prize sowie der Geschwister-Scholl-Preis.

Das Buch: „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ ist das neueste Werk von David Grossman. Die Protagonistin Ora erzählt von Liebe, Wut und Zärtlichkeit, Verzweiflung und Leidenschaft. Um der Angst zu entkommen, ihren Sohn bei einem Militäreinsatz im Westjordanland zu verlieren, flüchtet sie zu ihrem Jugendfreund Avram. Sie möchte im Falle des schrecklichen Unglücks unerreichbar sein. Erschienen im Verlag Hanser, 727 Seiten. (akt)

INTERVIEW SUSANNE KNAUL

taz: Bei der Beerdigung Ihres Sohnes Uri brachten Sie gegenüber Amos Oz Ihre Sorge zum Ausdruck, Ihr neues Buch nicht retten zu können. Oz sagte darauf, dass das Buch Sie retten wird. Hat es Sie gerettet?

David Grossman: Das Buch ist ein literarisches Werk, für das meine Tragödie letztendlich nicht relevant ist. Ich kann nur sagen, dass mich das Schreiben an diesem Buch an einen neuen Ort gebracht hat.

Eine Frau flieht vor einer Nachricht, der Nachricht, dass ihr Sohn im Krieg gefallen ist. Warum schreiben Sie aus der Perspektive einer Frau? Warum flieht hier nicht der Mann und Vater?

Das Buch beschäftigt sich mit der Frage, was es bedeutet, ein Kind zur Welt zu bringen und in dieser Welt großzuziehen. Die Tausenden kleinen Dinge, die wir tun, um diesen Menschen zu formen. Ich dachte, dass die Berührung der Frau bei diesen Dingen mit dem Kind unmittelbarer ist. Ich sage nicht, dass Väter mit der Erziehung der Kinder nichts zu tun haben, ich selbst bin ein sehr mütterlicher Vater und war immer sehr an der Erziehung meiner drei Kinder beteiligt.

„Jede Bewegung, die sie tut, könnte die letzte sein, bevor es an der Tür klopft“ – so beschreiben Sie die Angst der fliehenden Frau. Wie haben Sie selbst die Militärzeit Ihrer Jungen erlebt. Und sind Sie vielleicht auch geflohen – ins Schreiben?

Keinesfalls. Ich glaube nicht, dass Schreiben Flucht sein kann. Für mich ist es einer der stärksten Wege, mich gerade den Dingen zu stellen, vor denen ich mich fürchte. Dieses Buch zu schreiben, während mein Sohn in den besetzten Gebieten dient, ist alles andere als eine Flucht, sondern es bedeutet, dort zu sein, bei ihm, und mich nicht aus der Verantwortung zu flüchten. Ora macht es im Übrigen ganz genauso.

Ihre Helden stellen in unterschiedlichen Situationen die Frage, ob es Israel noch gibt. Würden Sie zustimmen, dass die Auffassung, Israel sei existenziell bedroht, eher eine rechte ist?

Ich würde zustimmen, dass die Rechte paranoider ist, aber auch in der Linken gibt es längst nicht mehr die Sicherheit, dass Israel existieren wird. Von außen macht Israel den Eindruck, stark zu sein, militant, aggressiv, eine Supermacht. Wer hier lebt, weiß, wie sehr das israelische Lebensgefühl von Verletzbarkeit und Zerbrechlichkeit geprägt ist und von der Bedrohung, in 20 Jahren vielleicht nicht mehr zu existieren. Die Angst, nicht mehr zu sein, ist ein Grundpfeiler der israelischen Erfahrung. Die Angst, dass eine große Katastrophe bevorsteht. Es gibt kein anderes Land auf der Welt, das vom Iran bedroht wird, ausgelöscht zu werden. Gegen uns wurde das Todesurteil verhängt. Und mehr als das: Es gibt kein anderes Land auf der Welt, dem, wenn es einen Fehler macht oder es ein Verbrechen begeht, wie es Israel von Zeit zu Zeit tut, das Existenzrecht abgesprochen wird. Nach der irakischen Invasion in Kuwait, als Saddam Hussein auszog, um Tausende Kurden zu morden, hat niemand gesagt, dass der Irak kein Existenzrecht hat. Nur über Israel wird das gesagt, und das ist unerträglich.

Wir müssen die Raketen der Hamas nicht als aggressiv betrachten, sondern als Aufforderung zum Dialog

Sie sagen, dass der einzige Weg, die Existenz Israels zu sichern, über den Frieden führt. Wie nah ist dieser Frieden?

Ich bin nicht sehr optimistisch, dass wir eine Zwei-Staaten-Lösung erreichen können, und fürchte, dass, wenn es US-Präsident Barack Obama nicht gelingt, uns zu dieser Lösung zu zwingen, es eine weitere Runde der Gewalt zwischen uns und den Palästinensern geben wird, die viel, viel schlimmer als die vorherige sein wird. Berichten aus den USA nach will Obama in der Siedlungsfrage nicht allzu streng sein. Das wäre ein großer Fehler. Die Lösung ist die der zwei Staaten, eine Teilung Jerusalems in den jüdischen und den arabischen Teil, es wird einen Landaustausch geben, um die großen Siedlungsblöcke zu erhalten, trotzdem werden sehr, sehr viele Siedler ihre Häuser verlassen müssen. Es wird kein Rückkehrrecht für die palästinensischen Flüchtlinge geben, außer in humanitären Fällen der Familienzusammenführung, alles andere würde Israel zerbröckeln lassen. Jeder Israeli, jeder Palästinenser und jeder Amerikaner, der über ein bisschen Logik verfügt, versteht, dass die Lösung so und nicht anders aussehen kann.

Als der sechsjährige Ofer im Fieberwahn panische Angst vor den Arabern bekommt, nimmt ihn Ora zum Panzermuseum, setzt den Jungen auf ein Kampffahrzeug und fragt, ob er jetzt noch Angst hat, was er verneint. Ora denkt sich zwar selbst, wie primitiv sie gehandelt hat, fragt sich aber gleich: Warum soll, was gut für den ganzen Staat ist, nicht gut sein für meinen Sohn? Sie sind Mitglied von Meretz –sieht so eine linke Position aus?

Wenn ich Bücher schreibe, dann bleibe ich meinen Figuren treu, nicht meiner Partei. Das Schlimmste wäre zu sagen, dass ich ein linker Schriftsteller bin. Politisch bin ich, wenn ich Meinungsstücke für die Zeitung schreibe. Ich denke nicht darüber nach, was Meretz über mein Buch sagen wird. Im Übrigen habe ich sowohl von Meretz als auch von der anderen Seite der politischen Landkarte gehört, dass sich die Leute in meinem Buch wiederfinden. Das Buch berührt etwas Israelisches, das viel tiefer geht als parteipolitische Differenzen. Es geht wirklich um die Frage unserer Existenz, um die Kompliziertheit und Unmöglichkeit der Existenz, die Komplexität des Staates.

Ora macht Salat und zerhackt Gemüse, macht Gurken und Tomaten zu Arabern – Chaled Maschal und Barghuti, Abu Masen und Schimon Peres gleich mit. Es ist die einzige Szene mit Humor in einem Buch, in dem es sonst nichts zu lachen gibt. Was macht Ora dort?

Ora wird hier zu einer Art Karikatur. Sie kann kein Arabisch, wie die meisten Linken, die nie auf die Idee gekommen sind, Arabisch zu lernen und die den Konflikt beenden wollen, um die Araber endlich loszuwerden. Ein Land vom Konflikt und von Arabern gereinigt. Das ist ein großer Teil der linken Emotion. Als Ora den Salat zubereitet, zerhackt sie Dschabalia [Flüchtlingslager im Gazastreifen] und Dschaldschulia [Grenzort, Westjordanland] und Marwan Barghuti – sie macht keinen Unterschied zwischen Menschen, Orten, sie zerhackt einfach alles und ist damit sehr authentisch, denn der israelische Normalbürger vertritt die Ansicht, dass Araber eine Gefahr darstellen. Diese Undifferenziertheit ist mit ein Grund dafür, dass wir feststecken in diesem Konflikt.

Der Junge, Ofer, um den die weibliche Heldin bangt, meldet sich freiwillig zum Krieg. Er lebt nach den alten israelischen Idealen. Der Konsens existiert im Buch, auch wenn die Mutter die Realität als Wahnsinn beschreibt. Zwanzig Jahre schützt sie ihren Sohn und dann schickt sie ihn los, um zu töten und sich töten zu lassen. Ist der Wahnsinn unausweichlich?

Die Lösung ist die der zwei Staaten, eine Teilung Jerusalems in den jüdischen und den arabischen Teil

Wir leben in einer Atmosphäre des Krieges. Unsere politischen Führer sind ehemalige Militärs. Krieg und Gewalt sind fast unausweichlich für uns, genauso wie für unsere Nachbarn. Wir leben in einer gewalttätigen Region. Genau hier liegt unsere Schwäche. Ofer ist Teil dieses Systems, er ist da hineingeboren worden.

Als ich 23 war, dachte ich wie er. Ich war kein großartiger Linker. Ich war in der Armee und wollte gerade dorthin, wo es gefährlich war, „action“. Der Staat manipuliert seine Bürger. Ich sage, wir müssen von Beginn an unser Verhalten ändern. Wir hätten auf die Militäroperation im Gazastreifen verzichten sollen und stattdessen mit der Hamas reden. Wir müssen einen anderen Weg einschlagen und die Raketen der Hamas nicht als aggressiv betrachten, sondern als Aufforderung zum Dialog.

Als sich Ofer zu Kriegsbeginn von seiner Mutter verabschiedet, flüstert er ihr ins Ohr, Israel zu verlassen, sollte er getötet werden. Ist Emigration eine Option für Sie?

Ich kann es mir nicht leisten zu verzweifeln. Achtzig Generationen von Juden träumten von einem eigenen Land. So schwierig die Realität hier ist, die Alternative ist schrecklich. Ich will hier leben und ich will, dass meine Kinder hier leben.