: Die Mathe-Nazis
„Mathepanik“ ist ein unter Schülern weit verbreitetes Phänomen, immer wieder „verhauen“ sie ihre Klausuren. „Du übst nicht genug, konzentriere dich einfach mehr!“, schimpfen Eltern und Lehrer. Doch sind alle Schüler mit einer Sechs in Mathe faul? Mitnichten, manchmal leiden sie einfach unter einer Rechenschwäche.
Dass Legastheniker gesprochene Sprache nur schwer in Schriftsprache umsetzen könne, ist hinlänglich bekannt. Weniger bekannt dagegen ist, dass es auch „Mathe-Legastheniker“ gibt, denen aufgrund einer Arithmasthenie (auch: Dyskalkulie) fundamentale arithmetische Einsichten fehlen. „Die Betroffenen können Zahlenverhältnisse nicht als solche erkennen. Haben sie etwa die Aufgabe 5 + 5 = 10 erfolgreich ausgerechnet, bereitet ihnen gleich darauf die Aufgabe 5 + 6 = 11 massive Schwierigkeiten. Sie erkennen nicht, dass die Zahlen 5 und 6 nur einen Ziffernwert voneinander getrennt sind“, erklärt Rudolf Wieneke, Leiter des Zentrums zur Therapie der Rechenschwäche. Das ZTR wurde 1993 gegründet und arbeitet in den Bereichen Diagnose, Behandlung und Erforschung der Rechenschwäche. In den deutschlandweit 15 Niederlassungen werden aktuell 850 Kinder, Jugendliche und Erwachsene betreut.
Die ersten Anzeichen einer Arithmasthenie zeigen sich meist im Grundschulalter. „Zur Lösung einfacher Subtraktionsaufgaben malen rechenschwache Schüler Punkte in ihr Heft, streichen entsprechend viele davon weg und zählen die verbleibenden Punkte mithilfe ihrer Finger zusammen“, so Wieneke. „Die Betroffen rechnen an Stellen, an denen es nichts zu rechnen gibt.“ Sie wenden subjektive Rechenregeln an (etwa 10 + 10 = 200) und produzieren „Traumergebnisse“, meist unter „peinlicher Missachtung der Logik“. So versuchen einige Betroffene, die Zahl 398 als die Summe aus 3, 9 und 8 zu begreifen, und erkennen die Null nicht als Zahl und als Ziffer. An die Stelle des stupiden Zählens tritt das begriffslose, rein mechanische Rechnen, zum Beispiel wird „13 – 12“ als „10 – 10 = 0“ und „3 – 2 = 1“ gerechnet. Häufig werden Zehner und Einer vertauscht, wird also zum Beispiel 24 mit 42 verwechselt. Auf das „Punktemalen“ als Kompensationsstrategie sind die Schüler auch noch dann angewiesen, wenn sie auf der weiterführenden Schule mit komplizierten Algebraaufgaben konfrontiert sind. Spätestens dann wird die Rechenschwäche zum ernsthaften sozialen Problem. Viele Betroffene müssen wegen miserabler Mathenoten die Klasse wiederholen oder machen gar keinen Schulabschluss. Auch gibt es keinen Beruf, der nicht ein Minimum an Mathekompetenz verlangt, hinzu kommen Schwierigkeiten im Alltag. Wieneke: „Rechenschwache zahlen am liebsten mit Kreditkarte oder großen Scheinen, weil sie etwa 3,90 Euro nicht schnell in Münzen zusammenzählen können.“
Rechenschwäche ist in der ICD-10-Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit Mitte der 1980er-Jahre als Entwicklungsstörung aufgeführt. Die Ursachen gehen vornehmlich auf mangelnde vormathematische Erfahrungen zurück. „Konkret heißt das, dass schon Vorschulkindern spielerisch ein Zahlenverständnis vermittelt werden muss“, so Wieneke. Einen Zusammenhang zwischen Intelligenzmangel und Rechenschwäche konnten Studien nicht bestätigen. Nach einer Untersuchung der Charité sind 6,6 Prozent der deutschen Grundschüler von Arithmasthenie betroffen, Wieneke geht von bis zu 20 Prozent aus. Bildungseinrichtungen seien über die Existenz von Rechenschwäche „äußerst schlecht“ informiert. „Werden Legastheniker im Fach Deutsch weniger streng benotet und ausreichend gefördert, so sind rechenschwache Schüler mit ihrer Mathepanik meist auf sich allein gestellt. Herkömmlicher Nachhilfeunterricht hilft ihnen nicht.“ Wieneke fordert vermehrte Aufklärung. „Ist das Problem rechtzeitig erkannt, stehen die Chancen für eine vollständige Behebung der Rechenschwäche gut. Bei Grundschülern sind meist nur wenige Förderstunden nötig, mit Erwachsenen arbeiten wir bis zu drei Jahre zusammen.“ In den Unterrichtsstunden vermittelt man den Betroffenen Kenntnisse wie diese: Hier liegen drei Äpfel und dort zwei. Also liegt hier ein Apfel mehr als dort. SASKIA VOGEL
Im „Dritten Reich“ wurde die moderne Mathematik als „jüdisch“ abgelehnt, als „deutsch“ galt das Anschauliche. In diesen Wirrungen entstand auch eine Abteilung für Mathematiker im KZ
VON JUDITH LUIG
Aus heutiger Perspektive scheint das Vorhaben idiotisch: die Gründung einer „Deutschen Mathematik“. Was kann schon national sein an Algebra und Arithmetik? Wie rechts ist der rechte Winkel? Andererseits passt es in den Geist der Zeit, dass in den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts Mathematiker auf die Idee verfielen, ihre Disziplin nicht nur personell, sondern auch ideologisch zu „arisieren“.
Der sich allgemein verbreitende wahnhafte Hang zum Deutschtum, der bereits seit ein paar Jahrzehnten sein Unwesen trieb, unterwanderte selbst die so theoretische Wissenschaft der Zahlen. In der Schule rechneten die Kinder nicht, wann der Fahrer B in Z ankommt, sondern wie viel Reichsmark pro Jahr den Staat ein Behinderter kostete. In Forschung und Lehre bedeutete die Nationalisierung der Mathematik für einige die Chance, ihrer Disziplin dem Regime anzudienen und die vermisste Anerkennung bei einer breiteren Masse zu sichern. Die Mathematik durchlief eine Phase der „Selbstmobilisierung“.
Der Begriff „Deutsche Mathematik“ war in der Hauptsache eine Idee von Ludwig Bieberbach. Er sah in der Mathematik und dem „Dritten Reich“ eine Geistesverbundenheit. „Die Grundhaltung beider ist das Heroische. Beide wollen Ordnung, Disziplin, beide bekämpfen das Chaos, die Willkür“, schrieb Bieberbach. 1936 gründete er eine Zeitschrift mit diesem Titel, die eine Plattform für die korrekte Form der Mathematik werden sollte. Vorbild war die Zeitschrift Deutsche Physik, die gegen das „undeutsche“ theoretische der Quantenphysik zu Felde zog.
In der Deutschen Mathematik wurden beispielsweise die Nürnberger Gesetze wissenschaftlich „begründet“. Die Wissenschaftler wurden nach einer antisemitischen Typenlehre eingeordnet. Der arische Typ, so wollte es diese Doktrin, sei der, der sich anschaulich-geometrischem Denken verpflichtet fühlt. Doch die Ablehnung der formalistischen Mathematik und die pseudowissenschaftlichen Beiträge der Deutschen Mathematik fanden in wissenschaftlichen Kreisen kein besonderes Interesse. 1942 wurde die unbedeutend gebliebene Zeitschrift nach nur sieben Ausgaben wieder eingestellt. Die Nazis hatten sie zur Rechtfertigung der Vertreibung jüdischer Professoren gebraucht. Rüstung und Krieg machten es jedoch unumgänglich, dass man auch die „jüdische“ Mathematik wieder zuließ.
Etwa ein Viertel der deutschen MathematikerInnen wurde im „Dritten Reich“ vertrieben, der Anteil der Immatrikulationen sank auf sieben Prozent. Diese Situation brachte Aufruhr in die Wissenschaft, und viele, die sonst vielleicht keine Chance gehabt hätten, machten auf einmal Karriere.
In den 1985 herausgegebenen „Erinnerungen“ des Mathematikers Helmut Fischer ist von einem der wissenschaftlichen Experimente der Nazis zu lesen: der „Mathematischen“ Abteilung im KZ Sachsenhausen. Diese spezielle Abteilung war Teil des 1942 gegründeten „Instituts für wehrwissenschaftliche Forschung“, das tödliche Menschenversuche an Häftlingen in den KZ Dachau und Natzweiler durchführte.
Im Mai 1944 hatte Heinrich Himmler, Reichsführer der SS, dem SS-Obergruppenführer Pohl befohlen, unter den deportierten Juden nach Physikern, Chemikern und anderen Wissenschaftler zu suchen, damit man sie als menschliche Computer nutzen könnte. Allerdings sollte diese wissenschaftliche Sklavenarbeit den Ausgewählten nicht das KZ ersparen. Die Forschungs- und Arbeitsstellen der Experten seien innerhalb des Konzentrationslagers einzurichten.
Zusammen mit dem Diplommathematiker Fischer vom Reichssicherheitshauptamt begann der Leiter des Ahnenerbes, Wolfram Sievers, im Herbst 1944 mit den Vorbereitungen für das KZ-Institut. Vermutlich da Fischer selber Mathematiker war, schlug er vor, zunächst ein spezielles Mathematikerkommando aufzubauen. Und er fand auch jemand, der sich für den Posten der Leitung dieses Experiments begeistern konnte: Karl-Heinz Boseck, bislang Informant des Reichssicherheitshauptamts. Die neue Aufgabe machte den frisch diplomierten Mathematiker zum SS-Untersturmführer. (Den Abschluss „Diplom“ hatte man 1942 eingeführt, um Mathematikern den Einstieg in Wirtschaft und Industrie zu erleichtern, vergleichbar den heutigen Bemühungen um Bachelor- oder Masterstudiengänge. Bislang waren in der Industrie den Mathematikern eher Physiker oder Chemiker vorgezogen worden.)
Heute erinnert nur noch eine Tafel in der Gedenkstätte Sachsenhausen an die unselige Kooperation zwischen Sievers, Fischer und Boseck. Die eigens umgebaute und speziell eingerichtete Baracke, in der das „Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, Abteilung Mathematik“ untergebracht war, steht nicht mehr. Von denen, die hier für die Rüstungsindustrie ausgebeutet wurden, ist nur noch eine erste Liste von Namen und Nationalitäten überliefert. Neben einigen Deutschen waren hier auch Portugiesen und Belgier. Der Historiker Herbert Merthens, dem man einen Großteil der Aufarbeitung der Geschichte der Mathematik im „Dritten Reich“ zu verdanken hat, hat diesen Namen einmal nachgeforscht, allerdings, wie er sagt, bislang nicht sehr intensiv und ohne nennenswerte Ergebnisse. So sind heute nicht mehr als ein paar grobe Fakten bekannt:
Am 9. November 1944 besuchte Karl-Heinz Boseck das Konzentrationslager in Buchenwald. Dort hatte man bereits siebenunddreißig Häftlinge vorsortiert. Vierzehn von ihnen befand Boseck für „brauchbar“, wie er dem Reichsführer der SS berichtete. Nur neun wurden allerdings tatsächlich nach Oranienburg zur mathematischen Zwangsarbeit gebracht. Der Transport der anderen fünf, unter ihnen ein Dozent der Prager Universität, war aus „sicherheitstechnischen Gründen“ zunächst verschoben worden.
Fischer suchte seinerseits in Konzentrationslagern nach geeigneten Rechnern. Auch wenn Himmler in seinem Befehl ausdrücklich davon gesprochen hatte, dass man unter den Juden nach Wissenschaftlern suchen möge, konzentrierten sich Fischer und Boseck zunächst auf Menschen, die aus anderen Gründen im KZ litten.
Am 14. November 1944 begann in der „Mathematischen Abteilung“ die Arbeit. Allerdings schien Boseck mit der Auswahl der Zwangsforscher nicht ganz zufrieden gewesen sein. „In den ersten drei Tagen war der Stab der Mitarbeiter wechselnd, da sich einige vorgestellte Häftlinge als nicht brauchbar erwiesen“, schreibt Boseck in seinem Bericht an den Reichsführer der SS. Auch die beschafften Materialien machten Probleme: Einige der insgesamt 32 zusammengesammelten Rechenmaschinen konnten trotz Bemühungen nicht repariert werden, und das Besorgen von neuen Geräten dürfte in den letzten Monaten des Krieges für das Rohstoffamt nicht unbedingt die Priorität gehabt haben. Dennoch schließt Boseck seinen Report mit der indirekt geäußerten Hoffnung ab, dass sein Mathematiker-Konzentrationslager demnächst noch mehr Mitarbeiter bekommen werde.
Wie zuverlässig sind die Berechnungen, die Menschen in einem KZ für eine Diktatur erstellen? Solche Fragen stellte man sich auch im wehrwissenschaftlichen Institut. Und man fand heraus: Um der Sklavenarbeit zu entgehen, erfanden die menschlichen Computer manche Ergebnisse einfach. So erdachten sich ihre Aufseher verschiedene Tricks. Wem man zum Beispiel erlaubte, nicht in Häftlingskleidung, sondern in normaler Kleidung zu arbeiten, der rechnete auch zuverlässiger. Zudem bemühte man sich um den Eindruck, dass die Arbeit der KZ-Insassen tatsächlich als wissenschaftlicher Beitrag ernst genommen würde, um ihren Ehrgeiz und ihre Kooperation zu fördern.
Was wirklich in dem Matheexperiment in Sachsenhausen geleistet wurde, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Am 22. April 1945 wurde das KZ Sachsenhausen befreit. Ahnenerbe-Geschäftsführer Wolfram Sievers wurde 1947 in Nürnberg zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet. Der deutsche Vorarbeiter der Mathematischen Abteilung, Emil Peuker, hat den Naziterror überlebt. Der 1910 geborene Peuker war mit einer kurzen Unterbrechung von zwei Monaten in Sachsenhausen. Was er über die Zustände dort in späteren Prozessen erzählte, steht in Akten, die immer noch unter Verschluss sind und nur mit Sondergenehmigung und nach einer Wartezeit von mehreren Monaten eingesehen werden können. Über die Mathematik und das „Dritte Reich“ ist also längst noch nicht das letzte Wort geschrieben.
JUDITH LUIG, Jahrgang 1974, ist Redakteurin im taz.mag. Sie findet schon immer, dass drei halbe Tortenstücke einfach weniger als ein ganzes sind LITERATUR: Herbert Mehrtens: „Moderne – Sprache – Mathematik: eine Geschichte des Streits um die Grundlagen der Disziplin und des Subjekts formaler Systeme“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990. Reinhard Siegmund-Schultze: „Mathematiker auf der Flucht vor Hitler: Quellen und Studien zur Emigration einer Wissenschaft“. Vieweg, Braunschweig 1998