: „Die Diffamierung macht mich wütend“
Hartz-IV-Missbrauch? Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, über die soziale Hängematte, die Methodik von Kampagnen gegen den Sozialbetrug und das zerstörerische Potenzial der „Bild“-Zeitung
ULRICH SCHNEIDER, 50, ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, zu dem über 150 Einzelverbände wie der Deutsche Kinderschutzbund und der Arbeiter-Samariter-Bund zählen. Der Katholik ist promovierter Erziehungswissenschaftler.
INTERVIEW GEORG LÖWISCH
taz: Herr Schneider, was ist eine soziale Hängematte?
Ulrich Schneider: Eine soziale Hängematte ist bequem, ich muss mich nicht anstrengen und werde von der Gemeinschaft sanft hin und her gewogen.
Wer liegt darin?
In der Realität gibt es sie nicht, auch wenn Politiker zurzeit wieder davon reden. Sie wollen aber nicht die Realität beschreiben, sondern unseren Sozialstaat als etwas Überzogenes und Paradiesisches erscheinen lassen, das dringend korrigiert werden muss. Zweitens wollen sie diejenigen als Faulenzer diffamieren, die auf Hilfen angewiesen sind.
Stimmt es nicht, dass der Missbrauch von Sozialleistungen den Staat Millionen kostet?
Es gibt Missbrauch. Letztes Jahr wurden über hunderttausend Fälle aufgedeckt. Natürlich darf das nicht sein, und deswegen wird es auch bestraft. Aber mit unter 3 Prozent liegt die Quote relativ niedrig.
Reichen die Kontrollen?
Die Möglichkeiten sind mit Hartz IV enorm ausgeweitet worden. Bankdaten können eingesehen werden, und die Behörden dürfen Daten abgleichen, um festzustellen, ob Leistungsempfänger Geld verdienen. Ich kenne keinen Fachpolitiker, dem noch Verschärfungen einfallen.
CSU-Generalsekretärin Haderthauer verlangt mehr Härte bei Missbrauch, Baden-Württembergs CDU-Generalsekretär Strobl will eine Pauschalierung der Hilfen im Energiebereich: „Es kann nicht angehen, dass für Hartz-IV-Empfänger Kohle, Gas und Öl faktisch in unbegrenzter Menge kostenlos zur Verfügung stehen.“
Herr Strobl fordert die gegebene Gesetzeslage: Heizkosten werden voll übernommen, sofern sie angemessen sind. Um das zu beurteilen, bilden die Kommunen Pauschalen pro Quadratmeter Wohnfläche, das ist die gängige Praxis, und da wird eher abgerundet. Mit anderen Worten: Hier spricht ein völlig Ahnungsloser. Das ist typisch. Es wird gefordert, Hartz-IV-Empfänger zu gemeinnützigen Tätigkeiten anzuhalten, obwohl das geschieht. Es wird verlangt, Leistungen zu streichen, wenn Menschen sich verweigern, obwohl es Praxis ist.
Was empfinden Sie, wenn Sie Bild aufschlagen und das Foto eines Hartz-IV-Empfängers sehen, der vier Handys in die Kamera hält und verrät, wie er die Arbeitsagentur reinlegt?
Ich ärgere mich ungeheuer über den Mann. Solche Menschen sind daneben, aber ich finde es auch schlimm, dass Medien sie aufbauen. Was diese Menschen mit der Bild-Zeitung besorgen, ist eine übelste Diffamierung von in aller Regel sehr ehrlichen Hartz-IV-Empfängern. Das macht mich wütend.
Weil es Ihre Forderung schwächt, Hartz IV zu erhöhen?
Die Medien: Bild bringt seit Montag eine Serie über „Sozial-Abzocker“. Darin wird beschrieben, wie sich Hartz-IV-Empfänger vor Jobs drücken oder schwarzarbeiten. So wurde „Schwarzarbeiter Markus M.“ präsentiert, der vier Telefone hat. Sat.1 bringt gerade die Doku „Gnadenlos gerecht – Sozialfahnder ermitteln“, die zeigen will, wie Geld erschlichen wird.
Die Politiker: Am Dienstag forderte CSU-Generalsekretärin Christine Haderthauer mehr Härte bei Hartz-IV-Missbrauch. Baden-Würrtembergs CDU-Generalsekretär Thomas Strobl schimpfte: „Wir können nicht länger dulden, dass es sich einige wenige auf Kosten vieler in der sozialen Hängematte bequem machen.“ LÖW
Natürlich, das wirkt unserer Lobbyarbeit massiv entgegen. Aber wenn manche Politiker und Medien solche Kampagnen führen, treiben sie auch einen Keil in die Gesellschaft. Das kann auf Dauer unser Gemeinwesen zerstören, weil dieses Land dringend auf mehr Solidarität angewiesen ist.
Zwei Chemnitzer Professoren haben errechnet, dass 351 Euro Regelsatz nicht nötig wären, 132 Euro reichten aus. Was sagen Sie dazu?
Wissenschaft erfährt ihren Elchtest im Alltag. Was die Herrn Professoren aus Chemnitz da errechnet haben, ist praktisch betrachtet einfach nur absurd.
Die Professoren veranschlagen Ausgaben für Kultur und Kommunikation viel niedriger als den derzeitigen Regelsatz.
Sozialhilfe und Hartz IV haben nicht nur das Überleben, sondern auch gesellschaftliche Teilhabe auf bescheidenem Niveau sicherzustellen. Wer hier noch kürzen will, handelt verantwortungslos – insbesondere gegenüber unseren Kindern.