: WHO-Chefin gibt erstmals zu: Strahlung immer gefährlich
ATOM II Direktorin erklärt, dass sie die offiziellen Positionen der Welt- gesundheitsorganisa- tion für falsch hält
VON ANDREAS ZUMACH
GENF taz | „Es gibt keine ungefährlichen Niedrigwerte radioaktiver Strahlung“, erklärte die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Margaret Chan, diese Woche bei einem kurzfristig anberaumten Treffen mit Mitgliedern der kritischen „Initiative für eine unabhängige WHO“.
Die von ukrainischen, russischen und westeuropäischen Ärzten und Strahlenbiologen sowie ehemaligen WHO-MitarbeiterInnen gegründete Initiative demonstriert seit über vier Jahren täglich vor der WHO-Zentrale für eine Kündigung des Abkommens mit der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA).
Bislang hatte die WHO immer die von der IAEA vorgegebene Position vertreten, radioaktive Strahlung unterhalb bestimmter Grenzwerte sei ungefährlich. Chan bezog sich bei dieser Aussage auf die Strahlung, die der Mensch über Nahrung, Wasser oder Luft aufnimmt, und die im Körper weiterstrahlt.
Es geht um radioaktive Partikel wie Jod-131, Cäsium-137 oder Plutonium. Nach Untersuchungen, die unabhängige Wissenschaftler seit der Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 gemacht haben, sind diese verantwortlich für bis zu 95 Prozent aller durch radioaktive Strahlung verursachten Krebsfälle und genetischen Veränderungen. Das hat die WHO stets abgestritten.
Chan distanzierte sich auch von bisherigen Aussagen der WHO zu den Folgen von Tschernobyl. „Ich persönlich glaube nicht, dass der Nuklearunfall in Tschernobyl nur 50 Todesopfer gefordert hat“, erklärte sie laut Mitschrift des Gesprächs mit der Kritiker-Initiative. Im Einklang mit der IAEA behauptet die WHO offiziell, infolge der Tschernobyl-Katastrophe seien lediglich 52 Personen gestorben und bis zu 6.000 an Schilddrüsenkrebs erkrankt.
Unbeschadet der Korrektur bisheriger Positionen beharrte Chan darauf, bei der Atomkatastrophe in Fukushima „ihre Verantwortung voll wahrgenommen“ zu haben. Sie verteidigte, dass die WHO die Messergebnisse zu Fukushima unter Verschluss hält, die sie und die IAEA regelmäßig von der internationalen Behörde zur Überwachung des Abkommens über den Stopp von Atomwaffentests (CTBTO) erhält. Die weltweit 80 Messstellen der CTBTO registrieren rund um die Uhr die radioaktive Strahlung in der Atmosphäre.
Die „Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik“ (ZAMG) in Wien, die ebenfalls Zugriff auf die Messergebnisse der CTBTO hat, stellte bereits Ende März einen deutlich höheren Austritt von Radioaktivität aus Fukushima fest als den, den die japanischen Behörden bekannt gaben. Chan erklärte, die WHO würde die Daten „nur veröffentlichen, wenn sie gefährliche Werte anzeigen“. Ob das so sei, entscheide sie „allein“.
WHO ohne „Kompetenz“
Zugleich räumte die Generaldirektorin ein, dass sie „keine Expertin für radioaktive Strahlung“ sei. Die WHO habe „bei diesem Thema heute fast überhaupt keine eigene Kompetenz mehr“. Die Abteilung für Strahlenbiologie wurde vor zwei Jahren auf Druck privater und staatlicher Geldgeber in der Genfer WHO-Zentrale geschlossen. Heute sitzt dort nur noch eine Strahlenbiologin.