: Tabu frisst Sicherheit
ABRÜSTUNG Wer verhindern will, dass Iran sich die Atombombe besorgt, muss endlich Israels Atomwaffen in den Abrüstungsverhandlungen thematisieren
■ ist emeritierter Professor für Politik und Wirtschaft der Universität Osnabrück, unter anderem mit dem Schwerpunkt Internationale Politik – Mittlerer und Naher Osten.
Seit Wochen wird an einem neuen Sanktionsbeschluss gegen den Iran gebastelt: Frankreich befürwortet harte Sanktionen auch gegen iranische Ölexporte, die USA plädieren für Maßnahmen gegen den iranischen Finanzsektor, die Bundesregierung bevorzugt Sanktionen gegen die Führung der Islamischen Republik, Russland prüft wohlwollend alle Vorschläge. Nur China tanzt bisher aus der Reihe.
Beide Seiten, der Westen und Iran, mobilisieren gegenwärtig für ihre Positionen. Obama nutzte den Atomgipfel Anfang dieser Woche in Washington, um China in das antiiranische Lager zu ziehen. Der Iran kontert dieser Tage mit einer eigenen nuklearen Abrüstungskonferenz unter dem Motto „Atomenergie für alle – Atomwaffen für niemanden“.
Dabei ist aus Sicht der USA und der EU einschließlich der Mainstreammedien der Iran derjenige, der bar jeder Vernunft handelt und den Westen wieder neu provoziert. Umgekehrt werfen der offizielle Iran und mit ihm die blockfreien Staaten der westlichen Seite einen double standard, Missachtung des Völkerrechts und imperialistisches Gehabe vor.
Die Täuschungsmanöver
Irgendwie scheinen beide Seiten ein wenig recht zu haben, und irgendwie scheinen beide Seiten auch ganz andere Ziele zu verfolgen, als sie vorgeben. Die westliche Seite behauptet, die Weiterverbreitung von Atomwaffen verhindern zu wollen. Und die iranische Seite pocht auf ihr im Vertrag zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Atomwaffen (NPT) verankertes Recht und meint, Irans Energieversorgung durch die Nukleartechnik sichern zu wollen. Schaut man aber genauer hin, dann fällt auf, dass beide Seiten den eigentlichen Konflik, nämlich das Sicherheitsdilemma im Mittleren und Nahen Osten, so systematisch wie konsequent umgehen.
Israel hat sich nämlich bereits in den 1960er-Jahren entschieden, das eigene Sicherheitsdilemma, hervorgerufen durch die Übermacht der Israel umgebenden arabisch-islamischen Staaten (ungleiche Bevölkerungszahl, Ressourcen, Soldaten, Waffenarsenale), durch eigene Atomwaffen zu beseitigen. Es schaffte sich heimlich 200 bis 300 Atombomben und auch die erforderlichen Trägersysteme wie Raketen mittlerer Reichweite und U-Boote an. Machtpolitisch und militärstrategisch erscheint Israels Politik plausibel. Ebenso plausibel erscheint allerdings auch, dass Israels atomare Vorherrschaft ein neues Sicherheitsproblem für alle anderen Staaten schuf, die in der Reichweite von Israels Trägersystemen liegen.
Alle umgehen das Kernproblem
Obwohl dieses unbestreitbar regionale Sicherheitsproblem der eigentliche Grund ist, weshalb die Islamische Republik den Aufbau eigener Nuklearkapazitäten betreibt, hat keine der beiden Seiten, haben weder USA, EU noch Iran – und auch das ist ein Fakt – sich bisher auf dieses Problem bezogen. Warum eigentlich nicht?
Die westliche Seite hätte ja Iran anbieten können, im Gegenzug für einen Verzicht auf Urananreicherung dem iranischen Sicherheitsbedürfnis ernsthaft Rechnung zu tragen. Bei ihren bisherigen Offerten wurde Irans Sicherheitsproblem bestenfalls angedeutet. Könnte es sein, dass die USA Israels atomare Vorherrschaft – sei es wegen des Einflusses der israelischen Lobby auf die US-Präsidenten, sei es wegen der eigenen hegemonialen Vorherrschaft im Mittleren und Nahen Osten – nicht zur Disposition stellen wollen und daher den NPT lediglich als Vorwand benutzen, um Irans Atomwaffen zu verhindern?
Auch die Islamische Republik und alle ihre Regierungen haben bisher strikt vermieden, von der westlichen Seite zu verlangen, Israels Atomwaffen in die Verhandlungen einzubeziehen. Könnte es wiederum sein, dass die iranische Seite im Wissen, dass Israels Atombomben nicht verhandelbar sind, ebenso konsequent den NPT als Vorwand benutzt und Zeit gewinnen will, um irgendwann doch die eigenen Nuklearkapazitäten zu schaffen und damit das regionale „Gleichgewicht des Schreckens“ herzustellen?
Alle Indizien sprechen dafür, dass beide Seiten die Weltöffentlichkeit über ihre wahren Ziele täuschen und versuchen, diese mit dem NPT zu rechtfertigen. Das Hin und Her, mit dem die Weltöffentlichkeit seit etlichen Jahren hingehalten wird, deutet auf eine Wahl zwischen Pest und Cholera hin: Entweder eskaliert der Konflikt zu einem neuen Krieg mit Folgen für Menschen, Wirtschaft und Umwelt, die die Katastrophen aller bisherigen Kriege im Mittleren und Nahen Osten in den Schatten stellen. Oder aber dem Iran gelingt der Griff nach der Atombombe, dann wird in der Region ein nukleares Wettrüsten in Gang gesetzt, das zur Verschwendung regionaler Ressourcen führt und auch die Feindbilder zwischen Arabern, Iranern, Türken, Kurden, zwischen Moslems, Christen und Juden vervielfältigt, die die Demokratiebewegungen im Iran und in der ganzen Region auf Jahrzehnte blockieren.
Irans atomare Aufrüstung ist die schlechteste aller sicherheitspolitischen Lösungen für Iran und die Region, genauso wie Israels Atomwaffen die ungeeignetste aller Alternativen sind, die Sicherheit der israelischen Bevölkerung vor realen Bedrohungen dauerhaft herzustellen. Diese kann auch niemals gegen die islamisch-arabischen Nachbarstaaten, sondern nur mit ihnen erreicht werden. Gegenteilige Annahmen entspringen nicht der Vernunft, sondern purer Ideologie oder einem Überlegenheitswahn.
Neues Wettrüsten droht
Die Lösung des Sicherheitsproblems aller Staaten und Menschen im Mittleren und Nahen Osten ist und bleibt die Perspektive der gemeinsamen Sicherheit einschließlich einer atomwaffenfreien Zone und die Kooperation in der Region. Der aktuelle Iran-Konflikt könnte letztlich auch in dieser Perspektive eine gerechte Lösung finden. Als erste vertrauensbildende Maßnahme dazu müssten USA und EU sehr ernsthaft und konsequent Israel auffordern, dem NPT beizutreten, um auf dieser neuen Grundlage mit dem Iran zu verhandeln. Obamas Vorstoß in diese Richtung verschwand bald im innenpolitischen Gezänk um seine Gesundheitsreform, er müsste jedoch dringend und erneut auf die weltpolitische Agenda gesetzt werden. MOHSSEN MASSARRAT