: Pioniere des Gewöhnlichen
Ein ganz normaler Ermittler mit Eheproblemen und nervösem Magen: Das brachte das schwedische Autorenpaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö in die Kriminalliteratur ein. Ihre Serie um Kommissar Martin Beck wurde nun komplett neu übersetzt – zwar mit Schwächen, aber ein neuer Blick lohnt sich dennoch
VON KATHARINA GRANZIN
Sie waren das Dreamteam der Kriminalliteratur. Das schwedische Autorenpaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö lebte und schrieb zusammen, in einer Symbiose, wie man sie selten findet. Maj Sjöwall ist heute eine alte Dame von 73 Jahren, wohnt in Stockholm und arbeitet immer noch als literarische Übersetzerin. Zusammen mit dem niederländischen Autor Tomas Ross schrieb sie 1990, 15 Jahre nachdem mit „Die Terroristen“ das letzte Buch der zehnbändigen Sjöwall/Wahlöö-Krimireihe erschienen war, noch einmal einen Kriminalroman (dt. „Eine Frau wie Greta Garbo“), doch dabei blieb es auch.
Per Wahlöö starb 1975 an Krebs, ein paar Wochen bevor „Die Terroristen“ aus der Druckerei kam. Er wurde nur 48 Jahre alt. Er war zehn Jahre älter als Sjöwall gewesen, ein Journalist und politischer Aktivist, der einiges gesehen hatte und der aus Spanien, wo er als Korrespondent tätig war, 1956 ausgewiesen worden war, da er sich an antifranquistischen Widerstandsaktionen beteiligt hatte. Außerdem war er, als er Maj Sjöwall 1961 traf, verheiratet und hatte eine kleine Tochter. Wahlöö hatte mehrere politische Thriller veröffentlicht, für die er jedoch nicht annähernd so viel Anerkennung erfuhr, wie sie ihm für die Kriminalromane zuteil werden sollte, die er bald darauf mit Sjöwall zusammen schrieb.
Sjöwall war als Grafikerin, Lektorin, Übersetzerin und Lyrikerin tätig und arbeitete bei einer Frauenzeitschrift, als sei Wahlöö kennenlernte. Beide, so hat es das Paar selbst oft und offenbar gern erzählt, hätten schon vorher denselben Gedanken: eine Serie von Kriminalromanen zu schreiben, die die gesellschaftliche Realität kritisch abbilden würden. Der erste gemeinsame Roman, „Die Tote im Götakanal“, erschien 1965 und bescherte seinen Urhebern einen gewissen Erfolg. Zwar machte er sie nicht schlagartig berühmt, doch der Plan, eine Serie daraus folgen zu lassen, wurde durch die positive Resonanz bestärkt. Die Reihe, beschlossen die Autoren, sollte genau zehn Bände umfassen und eine Zeitspanne von zehn Jahren abdecken. Den Titel für den Zyklus, den jeder der Romane als Unterzeile trägt, hatte Wahlöö schon lange vorher festgelegt: „Roman über ein Verbrechen“. Hierin klingt auch Dostojewski an (ein erklärtes Vorbild), dessen berühmtester Roman im Schwedischen schon immer „Verbrechen und Strafe“ hieß.
Das hier gemeinte Verbrechen ist „das Verbrechen der Sozialdemokratie an der schwedischen Arbeiterklasse“. Die Strafe dagegen, das begreift ein Sjöwall/Wahlöö-Leser schnell, ist nicht Gegenstand der literarischen Analyse, da sie in einer korrupten, kapitalistischen Gesellschaft ohnehin meist die Falschen trifft. Sowohl Wahlöö als auch Sjöwall sind Mitglied der schwedischen KP. Wir schreiben die Sechzigerjahre. Die lesende Welt ist reif für den marxistischen Kriminalroman.
Natürlich ist es purer Zufall, dass jetzt, 45 Jahre später, den Sjöwall/Wahlöö-Krimis so pünktlich zur großen Bankenkrise ein internationales Revival beschert wird. In Schweden erschien vor drei Jahren eine umfassende Neuausgabe, die jeden Band um ein Vorwort eines skandinavischen Krimiautors und die ganze Reihe mit einem Begleitband ergänzt. Im Gefolge dieser Offensive ist die Serie auch in neun weiteren europäischen Ländern neu aufgelegt worden oder steht kurz davor. Eine amerikanische Ausgabe, die zusätzlich mit enthusiastischen Vorworten englischsprachiger Genrekollegen aufwarten kann, startete im Herbst.
Auch die deutsche Neuausgabe hat ein Extra aufzuweisen, denn im Hause Rowohlt hat man sich entschlossen, die zehn Bücher neu übersetzen zu lassen und diese Aufgabe nicht einem, sondern gleich drei Übersetzern übertragen, unter denen die Romane aufgeteilt wurden.
Nun muss dazu allerdings festgehalten werden, dass auch nach gewissenhafter Prüfung schwer zu sagen ist, was an den alten Übersetzungen von Eckehard Schultz so unakzeptabel gewesen sein soll. Ja, es lassen sich Fehler in ihnen finden, doch nichts, was nicht in einer einfachen Durchsicht hätte behoben werden können. Auf der anderen Seite kann man bei einem synoptischen Textvergleich durchweg feststellen, dass die Schultz’schen Übersetzungen die sprachliche Eigenart des Originals wesentlich getreuer nachahmen als die neuen, denen eine enttäuschende Tendenz zur Verflachung gemeinsam ist. In der Sjöwall/Wahlöö’schen Prosa finden sich sehr detailreiche, auch mal umständliche Satzstrukturen, die mit einer präzisen, stark rhythmisierten Form der Dialogführung kontrastiert werden. All dies wird in den neuen Übertragungen umstandslos geglättet, eingeebnet und in ein Standard-Krimideutsch gebracht. Möglicherweise hat man sich ja bewusst auf diese Linie geeinigt, damit alle drei Übersetzer ein ähnlich klingendes Resultat abliefern konnten. Vielleicht will man auch die Leser nicht überanstrengen. Auf jeden Fall zeugt dieses Verfahren von enttäuschend geringer Wertschätzung des Sjöwall/Wahlöö’schen Originals als literarischer Vorlage.
Denn mögen es auch „nur“ Krimis sein, so sind es doch internationale Klassiker – sie lohnen auch jede Neu- oder Wiederholungslektüre. Mit dem vierten Roman, „Endstation für neun“, war damals endgültig der große, transkontinentale Durchbruch geschafft. Plötzlich wurden die Autoren mit Ehrungen überschüttet und erhielten 1970 sogar den begehrten amerikanischen „Edgar“, der noch nie zuvor an einen übersetzten Roman gegangen war. Die schwedische Krimiakademie kürte das Buch zum „besten Kriminalroman des Jahrhunderts“.
Das hatte Konsequenzen. Je erfolgreicher die Reihe war, desto expliziter wurde auch ihre politische Ausrichtung. Auch in ihren sonstigen Äußerungen wagten die Autoren sich weiter vor. Nach Veröffentlichung des zweiten Romans hatte Per Wahlöö noch geschrieben, ihre Bücher enthielten zwar eine komplexe soziale Botschaft, doch Schriftsteller sollten ihr Werk nicht selbst deuten. Ein paar Jahre später, nach dem Erscheinen von „Verschlossen und verriegelt“, antwortet Wahlöö, in dem einzigen heute noch erhaltenen Radiointerview beider Autoren, auf eine inhaltliche Frage zum Buch: „Unserer Ansicht nach ist ein Verbrechen in vielen Fällen Ausdruck eines bewussten, oder oft vielleicht ganz unbewussten, Protests gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse.“
Derart radikal lassen die ersten Bände sich noch nicht an. Doch von Beginn an zeichnen sich die Sjöwall/Wahlöö-Romane noch durch etwas anderes aus, worin sie das Genre von Norden aus gründlich renovieren sollten. Wenn es heute wie selbstverständlich dazu gehört, einem Ermittler ein paar menschliche Makel und ein komplexes Privatleben mit auf den Weg zu geben und ihn offensiv als Rädchen im Getriebe des gesellschaftlichen Ganzen zu kennzeichnen, so ist das in hohem Maße das Verdienst von Sjöwall/Wahlöö. Vor dem Hintergrund des damaligen schwedischen Standard-Whodunnits, der sich am artifiziellen britischen Landhauskrimi orientierte, waren die Ehe- und Magenprobleme des Kriminalbeamten Martin Beck etwas ganz Neues. Beck ist der erste Pionier des Gewöhnlichen.
Die oft vorgebrachte These allerdings, Sjöwall und Wahlöö hätten als erste ein Ermittlerkollektiv zur zentralen Heldenfigur gemacht, trifft nicht zu. Und zwar nicht deshalb, weil die Grundidee, ein Polizistenteam in den Mittelpunkt zu stellen, aus den Romanen Ed McBains stammte (es gab sogar Plagiatsvorwürfe, was Maj Sjöwall, die mit Wahlöö zusammen McBain übersetzt hatte, später zu der seltsamen Behauptung veranlasste, sie hätten dessen Romane gar nicht gelesen). Es ist schon richtig, dass auch die Schweden ein Team präsentierten. Die tägliche Polizeiarbeit wird detailliert dargestellt, Karrieristentum karikiert; öde Meetings mit ignoranten Übergeordneten sind steter Quell humoristischer Dialoge. Martin Beck jedoch steht klar im Zentrum; aus seiner Perspektive sieht der Leser auf die Dinge. Und eben dadurch, dass er als Person so normal ist, wird er von Buch zu Buch mehr zur idealen Identifikationsfigur. (Dass dieser Beck seinen Schöpfern irgendwann entschlüpfen und seine eigene Fernsehserie starten kann – die mit Sjöwall/Wahlöö nicht das Geringste zu tun hat –, ist eben dieser Anpassungsfähigkeit als perfekte Projektionsfläche zu verdanken.)
Auch politisch vertritt Beck keine eigene Meinung. Ansichten, die denen der Autoren ähneln, sind auf drei andere Personen verteilt. Von den Kollegen sind dies Becks Freund Lennart Kollberg sowie dessen Intimfeind Gunvald Larsson, dessen linke Einstellung einhergeht mit besonders brutalem Bullengehabe. Dass ausgerechnet diese beiden sich gegenseitig nicht ausstehen können, erzeugt eine rätselhafte Dauerspannung, und man könnte, wenn man mehr über die damalige schwedische Linke wüsste, darüber spekulieren, ob dieser Konflikt noch andere als rein dramaturgische Gründe hatte.
Beck zu politisieren, schafft erst seine Freundin Rhea Nielsen, die in „Verschlossen und verriegelt“ (Band 8) in sein Leben tritt und ihn so weit zum Nachdenken bringt, dass er sich zum ersten Mal im Leben hinsetzt, um mit alten Arbeitern Bier zu trinken (in der Arbeitszeit!). In Band 10 schließlich hängt sie gar ein Mao-Plakat über sein Bett, in dem sie miteinander ihren ja so befriedigenden Sex haben.
Selbst wenn man in Becks maoistischem Wandschmuck genau wie in der Tatsache, dass das letzte Wort des gesamten Zyklus „Marx“ lautet, ein halbironisches Augenzwinkern der Autoren mitlesen kann, so empfindet man so manches, nach langer Zeit wieder gelesen, natürlich als überzeichnet. Auch die Tatsache, dass die handelnden Personen eine Sexualität besitzen, wird durchaus überbetont. Die Brustwarzenfixierung der Autoren – die Form der Brustwarzen, für die Handlung von beschränkter Relevanz, ist mit das Erste, was man über weibliche Personen erfährt – grenzt ans Neurotische. Im Ganzen gesehen, tragen die Romane eindeutig paranoide Züge. Ein gar so schlimmes Gruselland kann, denkt man, das Schweden der Sechziger- und Siebzigerjahre gar nicht gewesen sein. (Andererseits rief sogar die überzeugte Sozialdemokratin Astrid Lindgren 1976 – erfolgreich – zur Abwahl der Regierung Palme auf.)
Und doch: Gerade die aus heutiger Sicht bisweilen übertrieben wirkende Darstellung mancher Dinge macht diese Romane zu herausragenden Zeitdokumenten. Und wenn sie, anders als etwa Bölls Politmelodram „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974), heute noch gelesen werden, so liegt das auch daran, dass sie nach wie vor wunderbar als Krimis funktionieren. Man ist bei der Wiederlektüre, wie Arne Dahl in seinem Vorwort zur Neuausgabe von „Und die Großen lässt man laufen“ treffend feststellt, auf jeden Fall sehr „erleichtert, dass sie nach wie vor so gut sind“.