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Archiv-Artikel

„Wir brauchen eine geile Gala – als Bekenntnis zueinander“

Seitenwechsel Cem Gülay hat als Gangster die Knarre gezogen. Dann stieg er aus. Jetzt weiß er: Ein Leben mit Rotkohl und Weihnachtsfilmen ist möglich. Er wirbt für Integration

Cem Gülay

Karriere: Nach dem Abitur gleitet Cem Gülay ins Hamburger Milieu ab und wird Mitglied der Türkenmafia. Er steigt ins Warentermingeschäft ein, verspricht Anlegern am Telefon satte Gewinne, das Geld behält er für sich. Mit 21 verdient er 70.000 Mark im Monat und mehr.

Knast: Im April 2004 wird Gülay wegen Betrugs und illegalen Waffenbesitzes zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Am 15. März 2009 läuft seine Bewährung ab. Im Oktober ist sein Buch „Türken-Sam: Eine deutsche Gangsterkarriere“ erschienen.

Herkunft: Gülays Vater kommt 1965 aus Ostanatolien als Gastarbeiter nach Hamburg. Er arbeitet tagsüber bei Siemens, nachts fährt er Taxi. Die Mutter ist 15 Jahre alt, als Gülay 1970 geboren wird. Die Familie lebt in Hamburg-Lokstedt. Man spricht deutsch zu Hause, die Eltern meiden Kontakt zu türkischen Familien. Sam hat nur deutsche Freunde.

Jugend: Weil seine Schulfreunde seinen Vornamen Cem falsch aussprechen, lässt er sich Sam nennen. Er geht aufs Gymnasium, spielt Fußball in der Hamburger Auswahl. In der ruhigen Hochhaussiedlung ändern sich Anfang der Achtzigerjahre die Verhältnisse: Deutsche ziehen weg, türkische Jugendgangs dealen und rauben. Die Stimmung im Viertel wird türkenfeindlich. Gülay rüstet sich mit Kampfsport.

INTERVIEW KIRSTEN KÜPPERS UND MARTIN REICHERT ILLUSTRATION DIETER JÜDT

taz: Herr Gülay, was wünschen Sie sich zu Weihnachten?

Cem Gülay: Das fragen sie einen Türken? Also, ich wünsche mir Ruhe. Ich werde für meine Freundin kochen: Ente, Kartoffeln und Rotkohl. Dann werde ich mich vor den Fernseher hauen und Weihnachtsfilme gucken.

Früher sind Sie am Wochenende mit Ihren Gangsterkollegen im Porsche nach Sylt gefahren, haben gekokst und mit Blondinen Champagner getrunken. Jetzt sitzen Sie im Berliner Winter vor dem Fernseher. Ist das nicht ziemlich unglamourös?

Es war immer klar, dass das Gangsterleben nicht ewig gut gehen kann. Ich wusste, entweder werde ich im Knast landen oder sterben.

Mittlerweile fahren Sie einen kaputten Alfa Romeo.

Einen ganz alten Klapperwagen. Und ich fühle mich total wohl.

Das Jahr ist also gut gelaufen?

Mein Buch ist herausgekommen. Ich bin nach Berlin gezogen. Die Hauptstadt hat mir sehr viel Glück gebracht, viel Stabilität im Leben.

Und eine neue Freundin.

Ja, ich bin neu verliebt. Ich habe eine Freundin, die ich heiraten möchte. Sie ist interessanterweise Griechin. Sie hat das jetzt ihren Eltern erzählt, und die finden das okay.

Was arbeiten Sie denn gerade?

Ich bin fast nonstop mit Interviews beschäftigt. Ich habe gerade gar keine Zeit, in einem normalen Beruf zu arbeiten. Zuletzt hatte ich ja zwei Klamottengeschäfte in Hamburg. Hier in Berlin hatte ich eigentlich einen Job als Immobilienverkäufer in Aussicht, das ist noch nicht vorbei. Und wir wollen einen Film machen.

Aus Ihrer Geschichte?

Aus dem Buch, ja.

Was genau ist denn in Ihrem Leben schiefgelaufen?

Als Kind dachte ich immer, ich bin ein deutsches Kind. Mein Vater hat darauf bestanden, dass wir zu Hause nur deutsch sprechen. Wir waren die einzige türkische Familie in unserer Hochhaussiedlung, ich hatte nur deutsche Freunde. Aber in den Achtzigern kamen dann die Konflikte. Viele Gastarbeiter haben ihre Kinder aus Ostanatolien nachgeholt. Das waren schon ältere Jugendliche, die haben sich nicht mehr integriert. Sie haben im Viertel mit Drogen gehandelt, Gangs gegründet und Jagd auf Deutsche gemacht. Und da kam natürlich eine Türkenfeindlichkeit auf. Auf einmal bin ich dazwischen gestanden. Skinheadbanden kamen und wollten meine Brüder verprügeln. Da wurde mir bewusst, dass ich gar kein deutsches Kind bin.

Die Generation Ihrer Eltern kommt in Ihrem Buch nicht gut weg.

Diese türkischen Eltern hätten das Geld besser in ihre Kinder investieren sollen als in Häuser in der Türkei. Aber das kommt, weil man hier in Deutschland immer gesagt hat, ihr müsst irgendwann wieder zurück. Die haben ihr Geld verdient und Häuser und Land in der Türkei gekauft. Für später.

Ein Leben in der Warteschleife?

Die Türken waren unglaublich dankbar am Anfang, selbst wenn sie nur die schwersten Arbeiten machen durften. Immer noch besser als verhungern in der Türkei. Aber wir Kinder wollen natürlich auch Edwin Jeans oder Nike Schuhe. Ich kenne einen Jungen, der ist bis zur 9. Klasse mit einer Plastiktüte zur Schule gegangen! Unsere Eltern haben wirklich an allen Ecken und Enden gespart.

Aber das Abitur haben Sie geschafft.

Ich wusste schon früh, dass Abitur Pflicht ist, um überhaupt eine Chance zu bekommen. Deswegen habe ich mit 14 auch keinen Laden ausgeräumt, Klamotten oder Autoradios geklaut. Meine deutschen Freunde haben das gemacht, aber denen wurde es verziehen, die haben heute gute Jobs. Türkenkinder werden anders behandelt. Beim Fußball wurde mir das klargemacht und auf der Schule. Ich wurde zum Schulsprecher gewählt und durfte es nicht sein. Der Direktor sagte: Ich kann mir keine türkischen Schulsprecher erlauben, die Neuanmeldungen fürs nächste Schuljahr sind rückläufig.

Der Direktor sagt, das stimmt nicht.

Es stimmt aber.

In der Disko haben Sie sich dann als Italiener ausgegeben.

Zuerst bin ich in die Disko und sagte, ich bin Türke. Ich wollte einfach nur Sex oder Spaß. Aber auf einmal fand ich mich in einer Diskussion über Ehrenmorde und Kopftuch wieder. Die Mädels fragten mich, ob ich auch einer bin, der sie dann schlägt. Und ab da bin ich eben zum Italiener geworden.

Den Porsche, den Champagner und die Frauen hätten Sie auch bekommen können, wenn das mit der Bundesliga geklappt hätte.

Ich habe kein Problem damit, dass ich kein Fußballprofi geworden bin.

In Ihrem Buch steht, dass Sie ein guter Spieler waren. Dass man aber damals keine ausländischen Spieler haben wollte.

Richtig. Ich war in der Hamburger Auswahl. Und es war zu der Zeit leider so, dass der Deutsche Fußballverband mit Berti Vogts keine ausländischen Spieler haben wollte.

Tatsächlich?

Fragen Sie meinen ehemaligen Hamburger Trainer. Der wird Ihnen das bestätigen.

Anderen Leuten geht’s auch schlecht. Muss man deswegen Verbrecher werden?

Ich hatte einen Onkel, der war mein Vorbild. Immer gut angezogen, immer ein Bündel Geldscheine in der Tasche. Er war der Einzige, der noch für mich da war. Meine Mutter war zu schwach, mein Vater hat mich rausgeschmissen. Und wenn du solche negativen Erlebnisse in der Schule oder beim Fußball hast und keine Unterstützung von zu Hause, da ist doch klar, dass man neue Strukturen sucht, neue Familien und Freunde. Mein Onkel hat mich aufgefangen. Und dann eben zum Gangster ausgebildet.

Es gab klare Regeln, zum Beispiel: Wenn du eine Waffe ziehst, musst du auch schießen.

Wenn du eine Knarre ziehst, musst du erst mal zwei Schritte zurückgehen. Bist du zu nah dran und der andere ist ein Zuhältermuskelprotz, kann er dir die Knarre aus der Hand ziehen und dich abknallen.

Eine andere Regel heißt: keine Drogen, kein Alkohol.

Genau: Du musst als Gangster die Kontrolle behalten. Viele nehmen trotzdem Drogen und werden paranoid, sehen überall Verräter. Deswegen knallen sie dann alle ab.

Sie behaupten, Sie hätten mehr als fünf Millionen Mark durchgebracht. Wie schafft man das bitte?

Mit Drogen, Partys, Klamotten, Autos. Meinem Vater habe ich eine halbe Million Mark geschenkt. Mit 21 war ich mit einem knallgelben Versace-Anzug, Schlangenlederstiefeln für 1.400 Mark und goldener Rolex auf den Champs-Élysées. Wie so ein Vollspinner-Mafioso aus dem Bilderbuch. Mir kam eine Jugendgang entgegen und hat geguckt – da musste ich selbst lachen!

Das klingt doch lustig. Warum haben Sie das Gangsterleben aufgegeben?

Als ich angefangen habe, war alles wunderschön. Aber nachher, wenn du mit den ganzen anderen Gangstern zu tun hast, musst du brutal werden. Du musst in der Lage sein, jemanden zu erschießen, wenn es hart auf hart kommt, sonst wirst du umgebracht. Viele von uns Jungs waren eigentlich gute Jungs. Aber es gibt in dieser Gangsterwelt auch unglaublich miese Typen. Und du siehst dann ungeheuer brutale, schlimme Sachen.

Deswegen haben Sie aufgehört.

Mein Ziel war ja nie, mein ganzes Leben in dieser Gangsterwelt zu sein. Ich wollte Geld verdienen und irgendwann aussteigen. Aber dann rutschst du tiefer rein. Irgendwann geht deine Menschlichkeit verloren. Du kannst nicht mehr lachen, du kannst nicht mehr weinen.

Warum nicht?

Du stumpfst ab. Du hast keine Endorphine mehr. Deswegen nehmen ja so viele Gangster Drogen, weil sie sich die Endorphine woanders besorgen wollen.

Ihr Pate hat Ihnen den Ausstieg ermöglicht.

Ich wollte raus. Aber als Gangster kann man nicht einfach abhauen. Ich bin ein loyaler Mensch. Zum Glück hat mein Pate gesagt: Steig aus, du hast Abitur, du bist intelligent! Mach was aus deinem Leben!

Haben Sie diese Entscheidung einmal bereut?

Alle Gangster, die ich treffe, sagen, du hast das Richtige gemacht. Alle.

Beneiden die Gangster Sie vielleicht sogar?

Am Anfang, wenn sie jung sind, ist das alles noch spannend. Aber dann kommt der Alltag.

„Die Gewalttäter alle in eine Schule, mit Sicherheitsdienst! Fertig, aus, Mickymaus“

Ihr Leben jetzt gefällt Ihnen besser?

Die Jugendzeit mit Porsche und Rolex ist absolut vorbei. Das Einzige, wo ich noch meine Eitelkeit habe, ist mein Aussehen. Ich muss noch Sport machen. Früher habe ich 100.000 Mark auf den Casinotisch gelegt. Jetzt bin ich frei.

Früher nicht?

In einer Parallelwelt bist du bestimmten Regeln unterworfen. Und du kannst jederzeit in den Knast kommen oder erschossen werden. Es ist wirklich nur ein kurzer Hollywoodfilm. Und dann ist alles vorbei.

Wie kommt man von den Drogen runter?

Das ist schwer. Durch neue Umgebung. Neue Freunde.

Im Buch schreiben Sie, dass es bald Krieg gibt in den Innenstädten.

Das Schreckensszenario, das ich beschreibe, ist eine klare Ansage an die rechten Politiker, an rechte Medien, an die Rechtsradikalen. Wenn sie meinen, sie müssten gegen die Türken hetzen, werden wir zurückschlagen. Die Rechten haben dieses Gift in den letzten Jahren wieder in die Köpfe der Menschen gebracht. Und deswegen haben wir diese schreckliche Statistik, dass fast 60 Prozent der Deutschen meinen, dass wir nicht integrationsfähig und -willig sind.

Was also ist Ihre Botschaft?

Es ist schön und gut, sich in Afrika um die Kindersoldaten zu kümmern und den Dalai Lama zu unterstützen. Aber es ist auch unglaublich wichtig, dass die Mitte der Gesellschaft uns Türken nicht im Stich lässt. Und jetzt zu der frohen Botschaft: Ich glaube, dass die meisten Deutschen mit den Türken gut zusammenleben wollen und die Türken mit den Deutschen. Wir haben Probleme, aber die werden wir auch lösen. Wenn wir als Gesellschaft nicht den Kopf einziehen. Du kannst doch dieses Problem nicht den Kindern der nächsten Generation aufbürden! Du hast doch gar keine andere Wahl, als dich damit auseinanderzusetzen.

Das klingt ziemlich pauschal. Haben Sie eine konkrete Idee?

Man sollte zum Beispiel eine richtig geile, witzige, freundschaftliche Fernsehsendung machen, wo der taz-Redakteur kommt, der Bild-Redakteur, Veronica Ferres, Michael Schumacher, Boris Becker, Thomas Gottschalk, Anne Will, Dieter Bohlen. Und dann auch ganz viele Türken. Ich würde das gerne moderieren. Wir brauchen mal ein klares Bekenntnis zueinander in einer geilen Gala.

Aha.

Und natürlich kannst du nicht jeden Menschen integrieren. Du wirst immer Kriminelle haben. Aber entscheidend sind doch die, die aus diesen Gettostrukturen rauswollen. Momentan gibt es eine Menge Gewalt. Und das wird noch schlimmer werden, weil es eine ganze verlorene Generation von Türken gibt, die mit den Deutschen nichts mehr am Hut hat.

Einem Exgangster, wie Sie einer sind, würden die vielleicht zuhören.

Ich habe bestimmt Vorbildcharakter für Jugendliche. Ich werde nicht alle retten können, aber eine ganze Menge von ihnen. Und die anderen Türken, die es geschafft haben, die trauen sich nicht, weil sie Angst haben um ihren Job. Oder weil sie fürchten, dass sie wieder in so eine türkische Ecke gedrängt werden. Aber ich bin dafür bereit, ich mache das. Man darf das Feld nicht den Rechten überlassen. Sonst werden wir Scheißschreckensszenarien bekommen. Wir können die Probleme lösen.

Zum Beispiel mit der großen Gala?

Ich habe viele Vorschläge. Die deutschen, türkischen und arabischen Kinder müssen auf denselben Schulen bleiben. Aber die, die gewalttätig sind oder rassistische Äußerungen machen, die müssen nach dem zweiten Vergehen sofort runter. Die Gewalttäter kann man alle zusammen in eine Schule packen, mit Sicherheitsdienst, und die können sich dann da gegenseitig die Köpfe einhauen.

Sie sind ein richtiger Hardliner.Ich habe mal ein High-School-Jahr in Florida verbracht. In Amerika gelten knallharte Regeln. Wer rassistische Sprüche macht, fliegt von der Schule. Fertig, aus, Mickymaus. Die Gewalttäter sind doch nur die Minderheit! Neunzig Prozent werden sich gut verstehen, und dann wird es wieder ein gutes Zusammenleben geben für die nächsten Generationen. Die Deutschen sind ja nur ausländerfeindlich, weil sie bei den Türken keine positiven Beispiele mehr sehen. Weil sie nicht mehr wissen, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie einer Gruppe von türkischen Jugendlichen auf der Straße begegnen. Diese Unsicherheit merken diese Gangs und nutzen das aus. Und später rächen sich die Deutschen, indem sie den Türken keine Jobs geben. So läuft das. Und deswegen brauchen wir die Mischung, wie beim Fußball. Glaubt mir, es wird wunderbar laufen!

Kirsten Küppers, Jahrgang 1972, ist sonntaz-Autorin

Martin Reichert, Jahrgang 1973, ist sonntaz-Redakteur

Dieter Jüdt, Jahrgang 1963, ist freier Illustrator