: Solidaritätsdumping
ENGAGEMENT Soziale Arbeit wird verstärkt in Pseudoehrenämter ausgelagert. Diese Billigjobs werden vor allem von Frauen übernommen: ein fataler Trend
■ lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Köln. 2007 erschien von ihr „Das Biedermeier-Komplott. Wie Neokonservative Deutschland retten wollen“ (Konkret Literatur Verlag).
Rund 23 Millionen Menschen in der Bundesrepublik engagieren sich ehrenamtlich, meist neben ihrem Hauptberuf oder ihrer sonstigen Beschäftigung. Das ist mehr als ein Drittel der Wohnbevölkerung, die über 15 Jahre alt ist.
Der typische Ehrenamtler ist ein berufstätiger, mittel bis gut verdienender Familienvater im mittleren Lebensalter. Sein Engagement spielt sich vorzugsweise im Sport und im sonstigen Vereinswesen ab. Man findet ihn auch in öffentlichen Ehrenämtern in der Justiz, den öffentlich-rechtlichen Kammern, bei der Feuerwehr oder in der Jugendarbeit – Funktionen, für die es häufig gesetzliche Freistellungsregelungen und steuerlich begünstigte Aufwandsentschädigungen gibt. Die weibliche Entsprechung ist die nichtberufstätige Ehefrau oder die Rentnerin, deren Kinder aus dem Haus sind, und die sich im Kulturbereich oder sozial-karitativ engagiert. Daneben hat sich das sogenannte neue Ehrenamt etabliert: in Projektgruppen, Bürgerinitiativen oder Selbsthilfe-Netzwerken.
Krankenpfleger gesucht
Ehrenamtliche sind Bindeglied zwischen Staat, Markt und Privatsphäre – ohne sie kommt eine Gesellschaft nicht aus. Das weiß auch die Politik und wirbt darum seit Jahren für mehr „Freiwilligkeit“. Soeben hat die Bundesregierung in einer „Nationalen Engagementstrategie“ versucht, die kaum noch zu überblickende Zahl der staatlich initiierten ehrenamtlichen Projekte in der Bildung, Integration, Gesundheit, Pflege, Stadtentwicklung, im Sport oder Katastrophenschutz mit dem nichtstaatlichen Engagementpotenzial in Vereinen, Bürgerinitiativen oder Unternehmen zu verzahnen.
Die bisherigen Formen der Ehrenamtlichkeit reichen anscheinend immer weniger aus, um die Löcher zu stopfen, die neoliberale Reformen in das Netz der sozialen Sicherungen gerissen haben. Trotz des über Jahre anhaltenden Appells seitens der Politik und der Medien an die Bevölkerung, mehr „Bürgersinn“ zu zeigen, hat sich die Zahl der freiwillig Engagierten nicht wesentlich erhöht. Aktuell verschärft sich die Situation, weil infolge der Verkürzung und geplanten Aussetzung des Wehrdienstes auch die Zahl der Zivildienstleistenden in sozialen Einrichtungen drastisch zurückgeht.
Mitte Oktober suchte die Kölner „Freiwilligen-Agentur“ Ehrenamtliche unter anderem für folgende Aufgaben: Betreuung und Begleitung von Heimkindern; Sprachkurse für Migranten; Frühstückszubereitung in einem Backpacker-Hostel; Grünanlagenpflege und Gerätewartung in einem Sportverein; Transport von Mittagessen zwischen verschiedenen Kindertagesstätten; Kontakte und Besuche im Altenzentrum; Krankenhaus-Besuchsdienste.
Mit „Aufwandsentschädigung“
Hierbei handelt es sich nur zum Teil um ehrenamtliche Tätigkeiten im klassischen Sinne – viele sind eigentlich Vollzeitjobs für Angelernte oder gar Fachkräfte. Das wissen auch die Institutionen, die sie vergeben, und locken daher immer öfter mit kleinen oder größeren „Aufwandsentschädigungen“. Dieser Trend zur Monetarisierung von scheinbar ehrenamtlichem Engagement schafft neue Formen von Billigjobs.
Um Steuern und Sozialabgaben zu sparen, nutzen vor allem Wohlfahrtsverbände die zuletzt 2007 angehobene sogenannte „Übungsleiterpauschale“ – nebenberuflich oder ehrenamtliche Trainer in Sportvereinen, Chorleiter, aber auch Erzieherinnen und Betreuerinnen dürfen bis zu 2.100 Euro im Jahr steuer- und abgabenfrei für ihren Einsatz erhalten. Geld, das für die Förderung des Ehrenamts gedacht war, entlastet so die Kassen der Wohlfahrtsverbände. Zugleich vergrößert sich damit die Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse.
Frauen sind in doppelter Weise von dieser Entwicklung betroffen. Vor allem sie bilden die „monetarisierte“ ehrenamtliche „Randbelegschaft“, die nun zum Einsatz kommt, um die durch Personalabbau, Bürokratie, niedrige Löhne und Schichtarbeit psychisch und physisch ausgelaugten, ebenfalls überwiegend weiblichen Fachkräfte im Pflege-, Gesundheits- und Betreuungsbereich zu entlasten. So sollen die „Ehrenamtlichen“ Kranken, Hilfsbedürftigen, aber auch Kindern jene zwischenmenschliche Zuwendung bieten, die früher integraler Bestandteil der Berufe von Altenpflegerinnen, Krankenschwestern oder Sozialarbeitern war. Diese Berufe erfahren so auch noch eine Dequalifizierung.
Wer ersetzt die Zivis?
Die Bundesregierung will diese Flickarbeit an der sozialen Infrastruktur systematisieren: Um die Auswirkungen des absehbaren Ausfalls von 90.500 Zivildienstleistenden, den „Zivis“, zu kompensieren, schlägt Familienministerin Schröder einen neuen „Freiwilligendienst“ vor. Anders als der bisherige Wehrdienst-Ersatz namens „Zivildienst“, soll dieser Freiwilligendienst dann Männern wie Frauen und unabhängig von deren Alter offenstehen. Bisher ergriffen nicht wenige junge Männer im Anschluss an ihren Zivildienst einen sozialpflegerischen Beruf. Es ist zu befürchten, dass das bei einem freiwilligen Zivildienst seltener der Fall sein wird. Das bereits bestehende „Freiwillige Soziale Jahr“ und das „Freiwilliges Ökologisches Jahr“ jedenfalls ziehen vor allem junge Frauen an.
Unter dem Begriff „Bürgerarbeit“ hat das Arbeitsministerium zugleich ein neues Modellprojekt für Langzeitarbeitslose in die Wege geleitet. 34.000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen sollen dafür ab Januar 2011 dem „gemeinnützigen Sektor“ zur Verfügung stehen und mit rund 900 Euro netto entlohnt werden. Auch dieses Projekt dient dazu, den Kranz von pseudoehrenamtlicher Tätigkeiten rings um die durch schlechte Arbeitsbedingungen ausgelaugten Fachkräfte im Gesundheits-, Betreuungs- und Pflegebereich auszubauen – die Billigvariante gegenüber einer Aufstockung des regulären Personals.
Freiwillige als kostenlose oder billige Alternative für eigentlich tariflich zu bezahlende Arbeit zu nutzen verschärft aber die Spaltung der Gesellschaft. Denn weder das klassische Ehrenamt noch Freiwilligendienste oder ein monetarisiertes Scheinehrenamt können eine auf Solidarität und sozialen Ausgleich zielende Politik ersetzen. CLAUDIA PINL