: König Minos an der Wall Street
LEERSTELLE Der Athener Ökonom Yanis Varoufakis analysiert die Finanzkrise und die europäische Staatsschuldenkrise in Zusammenhang mit dem Hegemonieverfall der USA
VON CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK
Ein jüngst auf der Erde gelandeter Außerirdischer müsste bei der Lektüre der seriösen Presse den Eindruck gewinnen, die europäische Krise wäre dadurch zustande gekommen, dass ein paar periphere Staaten sich zu viel Geld geliehen und zu viel ausgegeben hätten.“
Wer es in puncto Eurokrise mit dem Außerirdischen hält, sollte bei diesen Sätzen des Athener Wirtschaftswissenschaftlers Yanis Varoufakis aufmerken. Sie stammen aus seinem Buch „Der Globale Minotaurus. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft“. Darin geht es weniger um die hegemoniale Stellung der USA als um die Leerstelle, die sie nach ihrer Schwächung durch die Finanzkrise von 2008 hinterlassen haben. Vor allem aber findet sich darin ein kluger Befund zur Lage.
In verständlicher Sprache, die Makroökonomie fest im Blick und unterm Sattel die Bücher des John Maynard Keynes, macht Varoufakis sich ans Werk. Seine These: Die Staatsschuldenkrise in Europa war vorhersehbar, sie wäre leicht zu lösen, stattdessen tragen die zurzeit getroffenen Maßnahmen zu ihrer Verschlimmerung bei. Sie wird nicht gelöst, weil es derzeit politisch nicht gewollt wird. Und zwar vor allem von der deutschen Regierung.
Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation sind die Überschüsse von Nationen mit einer positiven Außenhandelsbilanz. Diese Überschüsse bedingen Defizite andernorts. Varoufakis geht historisch bis zur Weltwirtschaftskrise von 1929 zurück und widmet sich ausgiebig Bretton Woods, um aufzuzeigen, wie die USA eine führende Rolle einnehmen konnten, indem sie die nationalen Einkommensunterschiede weltweit zu ihren Gunsten kanalisierten. „Überschussrecycling“ nennt er das, und es ist der Kernbegriff seines Buchs.
Indem sie, das ist Varoufakis’ Botschaft an heutige Hegemonieanwärter, ihre Überschüsse geschickt zum Ausbau regionaler Hegemone wie Japan oder Deutschland verwendet haben, sorgten die USA für eine konstante Nachfrage nach den eigenen Industrieprodukten. Diese, man könnte sagen, Neuverteilung werde auch innerhalb föderaler Staaten ganz selbstverständlich praktiziert.
Das Regnum des „Globalen Minotaurus“ habe nach der Krise von 1971 begonnen, als die Kosten von Vietnamkrieg und Sozialprogrammen in Folge der 68er-Rebellion die Regierung zwangen, „Berge von Staatsschulden aufzuhäufen“.
Unter dem Bild des „Globalen Minotaurus“ darf man sich nicht die USA selbst vorstellen, eher eine Struktur. Varoufakis nennt ihn seine „Allegorie für einen gewaltigen Recyclingmechanismus, der die globalen Handels- und Kapitalströme umkehrte“. Wie König Minos, der die Athener zwang, dem Minotaurus Menschenopfer zu bringen, hätten die USA nach 1971, als die Nachfrage nach ihren Produkten einbrach, andere Volkswirtschaften dazu gebracht, ihre Überschüsse an die Wall Street fließen zu lassen, wo sie das doppelte Defizit der USA finanzieren halfen.
Es würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen, wiederzugeben, was der Ökonom alles für die Krise von 2008 verantwortlich macht. Unter den Ursachen sind viele bekannte, wie etwa das Geschäft mit toxischen Wertpapieren.
Hier ist der Ort für ein paar grundsätzliche Vorzüge des Buchs. Dazu gehört, dass es frei von Moral ist. Gegeißelt wird nicht die Gier der Anleger, Broker und Banker. Varoufakis appelliert auch nicht an europäische Solidarität, wenn er der Regierung der Exportnation Deutschland nahelegt, strauchelnde Nationen im eigenen Interesse nicht untergehen zu lassen. Und Varoufakis warnt eindringlich vor der toxischen Struktur des europäischen Rettungsschirms.
Jedes Land, das Geld in diesen Topf legt, muss es sich zu marktüblichen Zinsen leihen, so dass gerade die Länder, welche die größten Probleme auf den Finanzmärkten haben, ihre Probleme durch den EFSF exorbitant vergrößern müssten. Sein Vorschlag: die Vergemeinschaftung aller Staatsschulden, die eine gewisse Grenze überschreiten, die Ausgabe von EZB-Bonds und eine veränderte Rolle der Europäischen Investitionsbank. Fehlen nur noch die Agenten des Politikwechsels, für den Varoufakis leidenschaftlich plädiert.
■ Yanis Varoufakis: „Der Globale Minotaurus. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft“. Übersetzt von Ursel Schäfer. Antje Kunstmann Verlag, München 2012, 288 Seiten, 19,95 Euro