HYPERAKTIVITÄT, MÜDIGKEIT, KOLLEKTIVSUBJEKT : Wütende Bürger
VON ARAM LINTZEL
Leute betreiben öffentlich Affektabfuhr, und schon werden sie zum neuen politischen Subjekt erklärt. Dirk Kurbjuweit inszenierte den „Wutbürger“ für den Spiegel, die Süddeutsche Zeitung umkreiste das Phänomen und berichtete vom „Siegeszug der Wut-Literatur“. In demonstrativ postideologischer Manier wird dabei kein Unterschied zwischen Wut nach oben (Bahnhofsbauer) und Wut nach unten (Migranten) gemacht.
Die ganze „Debatte“ also ignorieren? Jetzt findet sich aber in dem kürzlich erschienenen Essay „Müdigkeitsgesellschaft“ des südkoreanischen Philosophen Byung-Chul Han eine Passage, die nahelegt, dass sich mit der Ankunft des Wutbürgers doch mehr ändern könnte als gedacht. Folgt man Han, ist die Wut nämlich ein anachronistischer und ebendeshalb utopischer Affekt. Er schreibt: „Im Zuge einer allgemeinen Beschleunigung und Hyperaktivität verlernen wir auch die Wut. Die Wut hat eine besondere Temporalität, die sich mit der allgemeinen Beschleunigung und Hyperaktivität nicht verträgt. Diese lässt keine temporale Weite zu. Die Zukunft verkürzt sich zur verlängerten Gegenwart. Ihr fehlt jede Negativität, die den Blick auf das Andere zuließe.“ Und weiter: „Die Wut stellt dagegen die Gegenwart ganz in Frage.“
Han verdrängt allerdings, dass sich „Negativität“ im politischen Raum allzu oft als Ressentiment gegen „die da oben“ äußert; erinnert sei nur an die rechtspopulistische Wählervereinigung „Bürger in Wut“ (BIW). Trotzdem glaubt er daran, dass die Wut eine geradezu subversive Antihaltung ist: „Die Wut ist ein Vermögen, das in der Lage ist, einen Zustand zu unterbrechen und einen neuen Zustand beginnen zu lassen.“ Er scheint keine Zweifel an der politischen Produktivität der Wut zu haben.
Dass sie meist blind ist, blind vor allem für jede Normativität und ein Bild von dem, was denn in die Lücke der ereignishaft unterbrochenen Gegenwart stoßen könnte, stört Han – ganz im Sinne postmoderner Vernunftskepsis – nicht. Kurbjuweit denunziert den Wutbürger als eine Verfallsgestalt des klassischen Bürgertums, nach Han versteht man die Wut als produktive Ressource, als notwendige Energiezufuhr, die es dem unter Druck geratenen Bürger ermöglicht, als ein tonangebendes Kollektivsubjekt aufzutreten.
Manches spricht dafür. Zumindest schafft sie das Selbst- und Sendungsbewusstsein, um zigtausende Hassmails an böse Politiker zu schreiben, die den armen Sarrazin angeblich knebeln wollen. Als Mitarbeiter eines Bundestagsbüros konnte ich mir diese bürgerliche Wutlyrik nach dem Schema „Ich bin kein Rassist, aber …!“ ausführlich zu Gemüte führen.
Han unterscheidet in seinem Buch die ermächtigende „Emphase und Energie der Wut“ von verwandten aber lähmenden Affekten: „Sie [die Wut; A. L.] weicht heute immer mehr dem Ärgernis oder dem Angenervtsein, das keine einschneidende Veränderung zu bewirken vermag. So ärgert man sich auch über das Unvermeidliche.“ Trotz des Hypes um den Wutbürger weist einiges darauf hin, dass eine postpolitische Zickigkeit immer noch hegemonial ist. In seinem neuen Sachbuch „Nörgeln! Des Deutschen größte Lust“, das sich – da es mit der angeblich typisch deutschen Krittelei abrechnet – durchaus zum erweiterten Kreis der „Wutliteratur“ zählen lässt, behauptet der in Deutschland lebende US-Amerikaner Eric T. Hansen, Nörgeln sei hierzulande „die heimliche Quelle der nationalen Identität“.
Nach dieser Diagnose liegt der Verdacht nahe, dass der Wutbürger doch nur das alte kleinbürgerliche Ärger- und Nörgelsubjekt ist, das sich ein bisschen zu weit aus dem Fenster gelehnt hat. Han sieht es anders: „Die Wut bezieht sich nicht auf einen einzelnen Sachverhalt. Sie negiert das Ganze“, schreibt er. Während in der aktuellen Debatte um Castortransporte oder Stuttgart 21 Proteste entweder als leere Rituale oder Egolobbyismus denunziert werden, entdeckt der Philosoph in der Wut eine weit ausholende Pathosgeste. Was aber könnte dieses „Ganze“ sein, das für den Wutbürger das Falsche ist? Die Gesellschaft? Alle Anderen? Oft ist es ja einfach die „politische Klasse“ oder sind es „die Ausländer“, gegen die sich das wütende Ressentiment richtet.
Und manch einer glaubt ja sowieso, dass politische Emotionen in Deutschland immer schon rechtsradikal sind. Hermann L. Gremliza stellt in seiner aktuellen Konkret-Kolumne die seit Sarrazin „zum Pogrom tendierende Stimmung“ in ein Kontinuum mit dem Kampf der Stuttgarter für „Lebensraum“. Auch der zum Kalauer herabsinkende Faschismusverdacht verwischt die Grenzen zwischen rassistischem Dampfablassen und demokratischer Leidenschaft.
■ Aram Lintzel ist Publizist und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen-Bundestagsfraktion in Berlin