: „Nie mehr Sushi“
Der Materialismus der Isländer war dem Schriftsteller Hallgrímur Helgason schon lange suspekt: Über Luftschlösser, Bodyguards und Katerstimmung
HALLGRÍMUR HELGASON, 49, wurde mit „101 Reykjavík“ bekannt und engagiert sich in einer Protestbewegung, die den Rücktritt der isländischen Regierung fordert.
INTERVIEW OLIVER POHLISCH
taz: Herr Helgason, wie bisher kein anderes Land wird Island von der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise erschüttert. Können Sie da ruhig an Ihrem Schreibtisch arbeiten?
Hallgrímur Helgason: Zufällig hatte ich genau einen Tag vor dem großen Crash Anfang Oktober ein Buch beendet, so dass ich mich danach auf die ökonomische und politische Lage konzentrierte. Dabei vergehen die Tage, und du weißt nicht wirklich, was du eigentlich gemacht hast. Die meiste Zeit bist du nur am Denken, gibst dir alle Mühe, einen Überblick über dieses komplizierte Durcheinander zu bekommen.
Wer oder was hat letztlich die „Kreppa“, wie die Isländer die Rezession nennen, verursacht?
Natürlich können wir dafür der globalen Krise die Schuld in die Schuhe schieben, aber wir können auch die rücksichtlosen isländischen Banker und Geschäftsmänner verantwortlich machen, die eine Finanzblase auf einem Darlehen nach dem anderen aufgebaut haben. Und die schlafenden Politiker, die den Gierhälsen erlaubten, frei herumzulaufen und Schulden aufzutürmen.
Im kleinen Island existiert die große Chance, den Leuten auf der Straße zu begegnen, denen Ihre Vorwürfe gelten.
Es sagt eine Menge über die Situation, dass in unserem mordfreien Land Premier Geir Haarde nun Bodyguards hat, um sich vor seinem Volk zu schützen. Die Leute sind wütend auf ihn und die Regierung. Und sie sind auch erbost über die Luxuselite, die sich selbst monatlich Gehälter in Höhe von 100.000 Euro ausgezahlt hat, die Privatjets und Luxusjachten besitzt und dazu Immobilien in drei Städten. Es heißt, dass diese Elite es kaum noch wagt, ihre Häuser zu verlassen.
In Ihrem Roman „101 Reykjavík“ würdigen Sie das exzessive Nachtleben von Islands Hauptstadt. Inwieweit würden Sie den Aufstieg des Hotspots Reykjavík mit dem Boom verbinden, den Island durchlebt hat?
Das Hotspot-Image kam zuerst auf, angeheizt durch Björks frühen Ruhm und Damon Albarns (Sänger von Blur) Interesse an Island. Das war in den frühen Neunzigerjahren. Der Boom begann erst nach der Jahrtausendwende. Man kann sagen, dass das „Hip and cool“-Image Islands, jenes, das die frühen Björk-Jahre geschaffen hatten, half, das Selbstbewusstsein der Business-Wikinger aufzubauen. Die Geschäftsleute haben ihren Nutzen aus der Coolness der Künstler gezogen.
Ist die Partylaune im Postzustellbezirk 101 Reykjavík getrübt?
Die Party ist vorbei. All die schicken Restaurants in 101 Reykjavík sind leer. Die Leute wagen es nicht mehr, ihre glänzend schwarzen Range Rovers durch die Gegend zu fahren. Plötzlich ist reich zu sein ein großes Tabu. Das Schlimmste am Kater ist für viele Leute, hören zu müssen, dass alle Welt nun über Island lacht.
Welchen ökonomischen Effekt hat die „Kreppa“ auf den Kultursektor Islands?
Ich denke, die „teueren“ Gefilde der Kunst werden am meisten leiden, Film und der extravagante Teil der bildenden Künste – all die Installationen à la Olafur Eliasson. Aber andere Medien werden florieren. Die Leute kaufen Bücher und CDs wie nie zuvor. Plötzlich herrscht große Nachfrage nach Schriftstellern und Dichtern, die auf jedem Treffen das Wort erheben, in jeder Zeitung schreiben und Pamphlete verfassen. Über viele Jahre habe ich mich ein wenig einsam gefühlt als einer von gerade mal zwei oder drei Schriftstellern in Island, die Kritik an der politischen Situation übten. Aber nun haben wir eine Hundertschaft von Stimmen, die ihre Meinung sagen – großartig!
In Ihrem Buch „Rokland“ kämpft die Hauptfigur Böddi wie ein moderner Don Quichotte gegen die Dumpfheit, Kulturlosigkeit und den Materialismus der Isländer. Ist er ein Prophet der jetzigen Krise?
Wenigstens hatte Böddi vor, eine Revolution anzuzetteln. Und das ist es, was einige Leute nun fordern. Er war der einsame Rebell auf dem Höhepunkt des Goldenen Zeitalters: Er wollte unsere Gesellschaft wirklich verändern, dieses materialistische Paradies des Easy Listening und des hirntoten Fernsehens. Böddi predigte einen Weg zurück zu klassischeren Werten, dass wir Isländer unser eigenes Erbe schätzen sollten, das der Sagas und der wahren Poesie. In gewisser Hinsicht ist es das, was gerade in Island passiert. Wir sind dabei, die erst neu gefundenen und extravaganten Pfade schnelle wieder zu verlassen und uns zurück zu unseren Wurzeln zu begeben: Nie mehr Sushi und Champagner. Nun gibt’s wieder „abgehangenes Fleisch“ und „saure Milch“.
Klingt stark nach Rückfall ins vorindustrielle Zeitalter.
1900 war Island noch die ärmste Nation Europas, schaffte es aber innerhalb eines Jahrhunderts bis an die Spitze. Wir glaubten tatsächlich, wir hätten die tragische Vergangenheit hinter uns gelassen. Aber nun sind wir praktisch zurück in einem Halldór-Laxness-Roman, der Island als „dem Untergang geweiht“ charakterisiert. Laxness schrieb viel über Geschäftsleute, die groß rauskamen und von ihren Erfolgen mitgerissen ein Leben in Luxushotels aufnahmen. Dort brachten sie auf ihre Eroberungen Trinksprüche aus und prahlten mit ihrem Reichtum, bis sich dann im nächsten Kapitel herausstellte, dass dieser aus nichts als Luftschlössern bestand. In diesem Kapitel befinden wir uns jetzt.