: Die neue Weltmedienmacht
AFGHANISTANKRIEG Für eine der größten Enthüllungen seit Jahren arbeitete die Internetseite Wikileaks mit drei klassischen Medien zusammen. Diese jubeln. Denn: Sie fühlen sich gebraucht
■ ANGST Daniel Ellsberg, verantwortlich für die Veröffentlichung der sogenannten Pentagon-Papiere, fürchtet um das Leben von Wikileaks-Gründer Julian Assange: „Er ist nicht nur gefährdet, verhaftet zu werden. Er könnte entführt, gefoltert und sogar getötet werden. Unser Präsident beansprucht erstmals in der Geschichte das Recht, militärische Kräfte nicht nur zum Ergreifen einzusetzen, sondern auch zum Töten“, sagte Ellsberg im US-Fernsehen.
■ DAS ERSTE MAL Die Pentagon-Papiere sind ein 7.000-seitiges Militärdokument, welches Ellsberg, damals Mitarbeiter im Verteidigungsministerium, im Sommer 1971 kopierte. New York Times und Washington Post publizierten die Papiere in Teilen. Sie belegten, dass die US-Regierung in Vietnam bereits zu einer Zeit Kriegsvorbereitungen traf, als sie behauptete, dort nicht eingreifen zu wollen. Und: Sie bewiesen, dass Washington den Krieg trotz großer eigener Verluste weiterführen wollte.
VON TARIK AHMIA UND WOLF SCHMIDT
Das hat es noch nicht gegeben: Ein deutsches Magazin, eine englische und eine US-amerikanische Zeitung werten gemeinsam tausende geheime Militärdokumente aus – zur Verfügung gestellt von einer Internetseite, die ein australischer Exhacker gegründet hat. Als „Medienpartner“ werden der Spiegel, der Guardian und die New York Times auf der Webpage der Whistleblowerplattform Wikileaks bezeichnet. Ein Begriff, den man sonst eher von Open-Air-Festivals oder Tennisturnieren kennt, an die sich Regionalzeitungen kletten, um lobhudelnd über sie zu berichten.
Doch diese neue Form der Medienpartnerschaft hat das Potenzial, die Welt zu verändern – zum Besseren. Denn für das nun von den drei Medien veröffentlichte „Kriegstagebuch“ aus Afghanistan wurden die Stärken des neuen Mediums Wikileaks mit denen der alten Medien kombiniert: Wikileaks schafft es, an Dokumente zu kommen, die sonst keiner bekommt. Und der Spiegel, der Guardian und die New York Times machen das, was sie am besten können: Sie analysieren die Dokumente, checken sie gegen, ordnen ein, bewerten. Und sie sorgen dafür, dass die Leser die mehr als 90.000 Dokumente überhaupt bewältigen können.
Auf den Onlineseiten der New York Times sind die wichtigsten der internen militärischen Meldungen aus Afghanistan nachzulesen, mit einer Kurzzusammenfassung und einer Übersetzung der zahlreichen Kürzel. Der Guardian hat eine interaktive Karte angelegt, in der die aus Sicht der englischen Zeitung 300 wichtigsten Ereignisse des „Kriegstagebuchs“ eingezeichnet sind. Aus einer weiteren Karte geht hervor, wann und wo zwischen 2004 und 2009 Sprengvorrichtungen, sogenannte IEDs, explodierten.
Ein „Musterbeispiel“ einer Zusammenarbeit mit den Medien sieht der Sprecher von Wikileaks, Daniel Schmitt. „Wir haben das Material, aber nicht die Kapazitäten, es auszuwerten.“ Auch David Leigh, Chef der Investigativabteilung beim Guardian, schwärmt von der Partnerschaft mit Wikileaks, die auch zeige, dass die alten Medien nicht tot seien. „Man braucht nach wie vor Journalisten, die das Material bearbeiten und eine fundierte Analyse erstellen“, sagte Leigh der taz.
Für Wikileaks ist die Veröffentlichung des „Kriegstagebuchs“ zugleich ein Befreiungsschlag. Denn nach drei Jahren, in denen die Plattform ein brisantes Dokument nach dem anderen ins Netz stellte – ein geheimes Guantánamo-Handbuch etwa oder Interna zum isländischen Bankenskandal –, wurde vor acht Wochen erstmals eine Wikileaks-Quelle enttarnt: der 22-jährige US-Soldat Bradley Manning. Ihm drohen nun bis zu 52 Jahre Haft, weil er Wikileaks unter anderem ein geheimes Video zugespielt haben soll. In dem Mitschnitt von der Bordkamera eines US-Kampfhubschraubers ist zu sehen, wie US-Soldaten in Bagdad mehrere Zivilisten töten. Auch wenn Wikileaks nichts für die Enttarnung konnte – Manning soll von einem Hacker verraten worden sein, mit dem er gechattet hatte –, so war der Vorfall doch als schwerer Rückschlag für die Organisation gewertet worden.
Mit der Veröffentlichung der geheimen Dokumente über den Afghanistankrieg kann Wikileaks seinen Kritikern Kontra geben – auch jenen, die das Enthüllungsportal und seine Macher seit Wochen wegen angeblich veruntreuter Spendengelder unter Druck setzen. Die Vorwürfe richten sich gegen den aus Australien stammenden Wikileaks-Gründer Julian Assange und sind auf der Website Cryptome nachzulesen, die ebenfalls auf die Veröffentlichung brisanter Dokumente spezialisiert ist.
Der New Yorker Architekt John Young, der Cryptome betreibt, wirft Assange vor, Spenden an Wikileaks für einen aufwendigen Lebensstil zu missbrauchen. Young gehörte ursprünglich zu den Gründungsmitgliedern von Wikileaks. „Wikileaks gibt keinerlei Rechenschaft über die Spenden ab“, sagte John Young in einem Interview mit dem Fachdienst CNET. Er kritisiert „Wikileaks“ als „sektenhaft“ und „geldgierig“.
Auf Youngs Website schätzen anonyme „Insider“ die Ausgaben von Assange für Reisen und Unterkünfte in den letzten drei Monaten auf 52.000 US-Dollar. Assange habe – obwohl er kein Einkommen hat – im vergangenen Jahr 225.000 Dollar für persönliche Ausgaben verbraucht, behaupten die „Wikileaks Insider“ auf Cryptome – allerdings ohne Belege. Nur der Wikileaks-Chef habe Zugriff auf Spenden, es gehe zu wie in einer Diktatur.
Wikileaks-Sprecher Daniel Schmitt aus Deutschland wies die Vorwürfe gegenüber der taz zurück. „Die angeblichen Insider haben nicht im Entferntesten etwas mit uns zu tun. Sie schreiben Dinge, die weder Hand noch Fuß haben“, sagte er. Schmitt ist neben Assange der Einzige, der für Wikileaks öffentlich auftritt – wenn auch unter falschem Nachnamen.
Dass bislang eine öffentlich nachvollziehbare Buchführung fehle, liegt laut Schmitt auch daran, dass die Wikileaks-Macher das Projekt bis vor Kurzem mit ihrem eigenen Geld finanziert haben: „2009 habe ich 25.000 oder 30.000 Euro aus privater Tasche in dieses Projekt gesteckt. Da schreibe ich doch nicht in der Zeit einen Jahresbericht.“
Die Lage änderte sich Ende letzten Jahres, als Wikileaks erfolgreich einen Spendenaufruf machte, um den drohenden Bankrott des Projekts abzuwenden. Den bisherigen Höhepunkt erreichte der Spendenfluss, nachdem Wikileaks im April das US-Militärvideo aus Bagdad im Internet veröffentlichte. Seitdem sind aus Europa mehr als 400.000 Euro auf das Konto der gemeinnützigen Wau Holland Stiftung eingegangen, die das Geld für Wikileaks treuhänderisch verwaltet.
Das größte Hindernis für die Weiterentwicklung von Wikileaks ist laut Schmitt die dünne Personaldecke. Noch immer werde die Hauptarbeit von einem fünfköpfigen Kernteam bewältigt, das bislang ohne Bezahlung in Vollzeit für das Projekt arbeite. Zwar gebe es viele Hilfsangebote von Unterstützern, aber diese in hochbrisante Projekte einzubinden sei schwierig.
Wikileaks-Chef Julian Assange bestätigte in der vergangenen Woche bei einem seiner seltenen öffentlichen Auftritte, der Mangel an qualifizierten und vertrauenswürdigen Mitarbeitern würde auch beim Ausbau der Computersysteme von Wikileaks zu Engpässen führen. „Zurzeit bauen wir unsere Technik grundlegend um“, sagte Assange bei einer Konferenz in Oxford. Ein Ziel sei dabei, die Computerkapazitäten von Wikileaks an das riesige öffentliche Interesse anzupassen. Über einige Wochen hätte das die Funktionsfähigkeit der Website von Wikileaks beeinträchtigt. Durch die Umstellung sei auch die Zahl der Veröffentlichungen in den letzten Monaten gering gewesen. „Wir erhalten weiterhin viele Enthüllungsdokumente von hoher Qualität“, sagte Assange. „Aber wir haben nicht genügend Leute, um diese Informationen zu verarbeiten.“
Auch die Medienpartnerschaften will Wikileaks ausbauen. Bisher, so Sprecher Schmitt, suche man sich Medien und Redakteure aus, denen man eine solide Arbeit zutraue. In Zukunft sollen aber die Whistleblower selbst – also die Quellen, die anonym ihr Material einreichen – entscheiden, welche Medien das Erstzugriffsrecht haben. Erst nach einer bestimmten Zeit stellt Wikileaks die Daten dann komplett auf seine Seite.
Wie auch beim jetzt veröffentlichten „Kriegstagebuch“. Seit Sonntagabend kann sich jeder auf der ganzen Welt durch die Dokumente aus dem Afghanistankrieg wühlen – sofern die Wikileaks-Server wegen des großen Ansturms nicht gerade überlastet sind.