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Archiv-Artikel

Wanderung eines kleinen Jungen

Eine extreme Coming-of-Age-Geschichte: Dave Eggers erzählt eindrücklich die reale Geschichte der „Lost Boys“ – sudanesischer Jungen, die vorm Bürgerkrieg zu Fuß 1.000 Kilometer bis nach Äthiopien flüchteten und später teilweise in die USA gelangten. „Weit gegangen“ heißt das Buch

Valentino Achak Deng landete in Atlanta und machte es sich zur Aufgabe, das Schicksal der „Lost Boys“ zu erzählen

VON KATHARINA GRANZIN

Dies ist eigentlich die Autobiografie einer existierenden Person, erzählt in der ersten Person Singular. Doch derjenige, der erzählt, hat das Buch nicht geschrieben; und derjenige, der es schrieb, verfolgte dabei das Ziel, als Autor ganz zu verschwinden (was bekanntermaßen nicht wirklich möglich ist). Da es sich bei diesem Buch mithin um eine künstlerisch vermittelte Autobiografie handelt und manches darin fiktionalisiert werden musste, wird es ein Roman genannt. Wie es dazu wurde, ist eine Geschichte für sich.

Dave Eggers, der Autor, hatte 2001 mit „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ sein Debüt als Romancier, und manche begeisterte Rezensentin übernahm den dazu einladenden Titel gleich als Urteil in ihre Kritik. Die sich darin abzeichnende humorvolle, freundlich ironisierende Einstellung zur Literatur und wahrscheinlich überhaupt zum Leben ist möglicherweise ein unveränderliches Kennzeichen von Dave Eggers als Autor. Er hat es auch beim Schreiben von „Weit gegangen“ nicht abgelegt – auch wenn er behauptet, es gewollt zu haben. Und das macht überhaupt gar nichts. Die Geschichte, von der dieser Roman zu berichten weiß, ist erstaunlich. Dass sie auf diese Art erzählt werden kann, fast ebenso.

Ihr Held und Icherzähler heißt Valentino Achak Deng. Er ist heute etwas über 30 Jahre alt und lebt seit ein paar Jahren in den USA. Vorher waren verschiedene afrikanische Flüchtlingslager seine provisorische Heimat. Deng gehört zum Stamm der Dinka, der im Südsudan beheimatet ist. Als er etwa sechs oder sieben Jahre alt war, im Jahr 1983, brach der Bürgerkrieg aus. Er sollte erst 22 Jahre später beendet werden (während in einem anderen Landesteil, in Darfur, gerade ein neuer Krieg der Regierung gegen die Bevölkerung begann).

Der kleine Valentino, damals Achak genannt, wurde während eines Überfalls von Reitermilizen auf sein Dorf von seiner Familie getrennt. Es gelang ihm, wegzulaufen und sich im Busch zu verstecken. Mit einer immer größer werdenden Gruppe von Jungen, die ihr Zuhause verloren hatten, lief er mehr als tausend Kilometer unter unglaublichen Entbehrungen zu Fuß nach Äthiopien. Dort errichtete man direkt hinter der Grenze ein Lager für die Flüchtlinge, und Achak verlebte einige Jahre in relativer Sicherheit. Doch als die Spannungen mit der alteingesessenen Bevölkerung immer mehr zunahmen, wurden die Sudanesen wieder vertrieben und landeten im Lager Kakuma im Norden Kenias, einem Ort im Nirgendwo der Wüste.

Hier wurde Valentino erwachsen – und konnte schließlich im Jahr 2001 in die USA ausreisen, die Tausende von sudanesichen Bürgerkriegsflüchtlingen bei sich aufnahmen. Valentino Achak Deng landete in Atlanta und machte es sich, sobald sein Englisch gut genug war, zur Aufgabe, mit Vorträgen überall im Land das Schicksal der lost boys, wie die Flüchtlinge genannt wurden – es gab auch einige wenige lost girls –, zu schildern. Doch Deng wollte mehr. Er belegte einen Schreibkurs, da es sein Ziel war, so gut Englisch zu lernen, dass er seine Geschichte – stellvertretend für viele andere – niederschreiben konnte. Bald sah er allerdings ein, dass dieses Ziel zu ehrgeizig gesteckt war, und beschloss, professionelle Unterstützung zu suchen.

Mary Williams, die Adoptivtochter von Jane Fonda und Gründerin der Flüchtlingshilfsorganisation Lost Boys Foundation in Atlanta, brachte ihn in Kontakt mit Dave Eggers, der auch die Reihe „Voice of Witness“ herausgab, die sich der oral history verschrieben hatte. Eggers und Deng trafen sich auf Dengs Geburtstagsfeier 2003. Diese fand keineswegs in privatem Rahmen statt, denn da fast keiner der lost boys wusste, wann er geboren war, war für alle dasselbe Geburtsdatum festgelegt worden – der 1. Januar. So begingen etwa 200 Sudanesen gemeinsam ihren fiktiven Geburtstag.

„Nach der Party“, berichtet Dave Eggers in einem Essay für den Guardian, „verbrachten Valentino und ich den Rest des Wochenendes gemeinsam in seinem kleinen Apartment in einem Außenbezirk der Stadt. Wir begannen damit, seine Geschichte auf Band aufzunehmen, angefangen bei den ersten Tagen des Krieges bis hin zur Gegenwart.“ Über die grundlegenden Dinge, so Eggers weiter, hätten sie sich sofort und einvernehmlich verständigt. So auch darüber, dass alle Einnahmen aus Bucherlösen an Valentino gehen sollten. Dieser wiederum begann gleich, Luftschlösser zu bauen, wollte von dem Geld eine Stiftung gründen, mit der er in seinem Heimatdorf eine Schule und eine Bibliothek errichten würde.

Doch in der ersten Euphorie der Zusammenarbeit schätzten beide den Umfang und die Besonderheiten des Projekts falsch ein. Eggers ging davon aus, etwa ein Jahr für die Arbeit zu brauchen. Doch zwei Jahre später merkte er, dass er als Autor in einem Dilemma steckte, das schwer zu lösen war. Nachdem Valentino und er noch 2003 – der Bürgerkrieg war noch im Gange – eine Reise in den Sudan unternommen hatten, schrieb Eggers eine Reportage darüber, die als Vorarbeit für das Buchprojekt gedacht war. Dabei wurde ihm klar, dass er das Buch nicht in dritter Person würde schreiben können, da dabei Valentinos eigene, charakteristische Stimme fehlte. Doch auch Deng zum Icherzähler zu machen, löste einige grundsätzliche Probleme nicht. Die absolute Authentizität, die beide anstrebten, erforderte eine drastische Einschränkung der formalen Mittel. Zudem hatte Deng an viele Dinge, vor allem aus der ersten Zeit seiner Flucht oder gar aus der Zeit vorher, nur mehr eine sehr verschwommene Erinnerung.

Eggers gab auf. Zwei Jahre intensiver Arbeit waren schon in das Projekt geflossen, als er beschloss, dass es so nicht ging: „Ich war nicht in der Lage, einen interessanten Dokumentarbericht über Valentinos Leben zu schreiben [...], und eine gewöhnliche oral history hätte all dem Material, das schon erschienen war, nicht Neues hinzugefügt.“

Erst nach dieser Kapitulation konnte die Idee reifen, aus dem Stoff einen Roman zu machen.

Dass einem Autor, dem – in „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ – immerhin auch schon sein eigenes Leben als Grundlage für einen Roman gedient hatte, dieser Gedanke nicht schon früher gekommen war, scheint ein wenig seltsam. Aus Sicht von Eggers’ anderer Existenz als Oral-history-Herausgeber ist die Scheu, dasselbe mit der Biografie eines anderen zu tun, jedoch verständlich. Deng selbst dagegen hatte mit dem neuen Ansatz keinerlei Probleme.

Der nun zügig entstehende Roman erhält seinen endgültigen formalen Aufbau allerdings erst Monate später. Deng war in seiner eigenen Wohnung in Atlanta Opfer eines Raubüberfalls geworden. Dieses Verbrechen wird zur Rahmenhandlung des Romans. Das ist Eggers’ eigentlicher Geniestreich. Die traumatische Erfahrung, im Wohlstandsland USA krimineller Gewalt ausgeliefert zu sein, wird zum Erzählanlass und gleichzeitig gespiegelt in der Erinnerung an das Trauma des Bürgerkriegs.

Es besteht ein scharfer Kontrast zwischen der klaustrophobischen Situation des Überfalls – über weite Strecken des Romans liegt der Icherzähler gefesselt am Boden – und der Schilderung der unendlichen Wanderung des kleinen Jungen durch die weiten Landschaften des Sudan ins rettende Äthiopien. Durch diese formale Konstellation gewinnt die Fluchtgeschichte eine zusätzliche Bedeutungsebene.

Ja, es passieren unvorstellbar grauenhafte Dinge auf dieser langen Flucht der Kinder. Jungen werden von Löwen gefressen. Andere sterben vor Hunger und Entkräftung. Achak sieht seinen besten Freund sterben und begräbt ihn mit bloßen Händen im Staub. Eggers lässt nichts aus. Wahrscheinlich ist dies die extremste Coming-of-Age-Geschichte, die je geschrieben wurde. Doch angesichts der Situation, in der Valentino sich nun als Erwachsener findet – gefangen und bedroht in seiner eigenen Wohnung nämlich –, liest man die Flucht durch die Savanne auch als eine Geschichte der Freiheit und der Hoffnung. Denn Achak schafft es. Er überlebt. Und so hart das Dasein im Flüchtlingslager sein mag, so gibt es auch dort ein Leben für Teenager und ihre kleinen pubertären Liebesgeschichten. Die Erzählerstimme, mag sie nun die authentische Stimme von Deng selbst wiedergeben oder mag der Eggers’sche Sinn für Komik durchblitzen, gibt auch die wenigen heiteren oder sogar märchenhaften Momente wieder, die auch diese seltsame Kindheit bereithält.

Dies alles aber ergäbe wohl einen zwar glänzend geschriebenen, berührenden, doch nicht ganz so außergewöhnlichen Flüchtlings- und Entwicklungsroman, würde sich nicht durch die Wechselwirkung von Handlung und Rahmenhandlung eine ganz eigene, prekäre Spannung entwickeln. Letztlich sind das armselige afrikanische Flüchtlingsleben und Dengs Kampf um Anerkennung im Gastgeberland USA zwei Pole eines existenziellen Teufelskreises, aus dem nur eines ihn erlösen kann: das Erzählen, vor allem aber die Hoffnung, dass jemand zuhört.

Mittlerweile hat Valentino Achak Deng seine Stiftung gegründet und mit dem Bau der geplanten Schule in seinem Heimatort begonnen. Es wird die erste weiterführende Schule in der gesamten Region sein. Auch seine Familie konnte er wiedertreffen; alle haben den Bürgerkrieg überlebt. Von all diesen Dingen aber steht im Roman nichts. Denn andernorts im Sudan herrscht immer noch Krieg. Und nicht für alle schreibt das echte Leben ein so unwahrscheinliches Happy End.

Dave Eggers: „Weit gegangen“. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 764 S., 24,95 €; Hintergrundinformationen, auch zur Lage im Sudan, auf www.valentinoachakdeng.org