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Archiv-Artikel

Nur was zusätzlich nutzt, darf zusätzlich kosten

BERLIN taz | Das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) ist Teil des Sparpakets der schwarz-gelben Bundesregierung im Gesundheitswesen. Es soll zum 1. Januar 2011 in Kraft treten und die Kosten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ab 2012 um jährlich zwei Milliarden Euro senken.

Mit dem AMNOG macht die Regierung ein gesundheitspolitisches Fass auf: Das Preisdiktat der Pharmaindustrie wird für innovative Arzneimittel gebrochen. Neue Medikamente sollen erstmalig systematisch auf ihren Nutzen untersucht werden. Nur was zusätzlich nutzt, darf künftig noch zusätzlich kosten.

Bislang konnten Pharmahersteller unter Verweis auf das Patentrecht die Preise für neue Arzneimittel in Deutschland nach Gutdünken festlegen. Damit soll Schluss sein. Künftig werden alle neuen Medikamente, für die die Hersteller einen Zusatznutzen reklamieren – orientiert an Mortalität, Morbidität und Lebensqualität – binnen drei Monaten einer systematischen Nutzenschnellbewertung unterzogen. Jährlich betrifft das rund 30 Präparate.

Der Arbeitsauftrag an das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) ändert sich grundlegend. Bisher war er auf punktuelle, qualitativ anspruchsvolle Kosten-Nutzen-Analysen beschränkt. Neue Medikamente ohne Zusatznutzen werden künftig sofort in Festbetragsgruppen eingeordnet. Für Arzneimittel mit Zusatznutzen darf die Industrie den Preis zwar weiter allein bestimmen – allerdings maximal ein Jahr lang. Bis dahin müssen sich die Hersteller und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen einigen. Andernfalls entscheidet eine Schiedsstelle.

Erst danach kann jede Seite künftig noch eine über die Schnellbeurteilung hinausgehende Bewertung der Nutzen und Kosten beim Kölner IQWiG einfordern.

SPD, Grüne und Linke warnen deswegen vor einer drohenden politischen Schwächung des obersten deutschen „Medizin-TÜVs“. Das Kölner Institut laufe Gefahr, aufgrund seines neuen Aufgabenzuschnitts in wichtigen Bewertungsfragen „vom Akteur zum Zuschauer“ degradiert zu werden, sagte die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, Birgitt Bender, der taz. Mit ihren Oppositionskolleginnen Carola Reimann (SPD) und Martina Bunge (Linke) fordert sie Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) auf, seinen Gesetzentwurf zur Neuordnung des Arzneimittelmarkts (AMNOG) nach der Sommerpause nachzubessern. Das Gesetz, bemängelt Carola Reimann (SPD), lasse offen, wer auf welcher Datengrundlage entscheide, wie viel Therapiefortschritt wie viel wert sei. Zu befürchten sei zudem, sagte die Grünen-Politikerin Birgitt Bender, dass die Hersteller im ersten Jahr „Mondpreise“ ansetzten, so dass sie auch nach Verhandlungen überzogene Gewinne machten.

Die systematische Nutzenbewertung ist eine langjährige Forderung von Pharmakritikern. Entsprechende Positivlisten für Arzneimittel scheiterten 1995 und 2003 am politischen Widerstand. Nutzenbewertungen durch das IQWiG wurden erschwert, weil bislang das Institut begründen musste, dass ein Mittel keinen Zusatznutzen hatte. Diese Beweislast wird umgekehrt. Auch müssen die Hersteller erstmals ihre klinischen Studien veröffentlichen.

Die Stoßrichtung des neuen Gesetzes wird von Reimann, Bender und Bunge begrüßt. Doch bleibe das Gesetz, so Bunge, „halbherzig“. Und die Grüne Bender fordert: „Wir brauchen Kosten-Nutzen-Bewertung nicht erst nachdem, sondern als Voraussetzung, bevor ein Medikament überhaupt auf dem Markt zugelassen wird.“ HEIKE HAARHOFF