: Wahrhaftig: Es isst Liebe
Religiöse Speisegebote sind ein permanenter Liebesbeweis. Sie regulieren Triebe und Alltag – vom Mosesfisch bis zu den Waffeln der Vergebung
VON TILL EHRLICH
Wenn die Welt untergeht und der Messias kommt, wird er gut essen wollen. Es ist die Zeit, da das Endgericht anbricht, die Verdammten in der Hölle schmoren und die Auserwählten in ewige Lichtwelten gehen. Der jüdischen Kabbala-Tradition zufolge wird das messianische Festessen ein Fischgericht sein. Und laut Lukasevangelium hat der auferstandene Christus Fisch mit Honigseim genossen. Damit ist vermutlich Mosesfisch aus dem Tiberias-See mit Datteln gemeint. Fleisch, selbst wenn es koscher ist, ist dem apokalyptischen Mahl nicht angemessen, hierfür ist Fisch auserwählt. Der muss Schuppen und Flossen haben, sonst ist er rituell nicht rein und tauglich.
Wenn man Religion als eine Zurückbindung an Gott begreift, stellt sich die Frage: „Was verlangt Gott von uns, und welchen Liebesbeweis sollen wir ihm erbringen?“ Im Monotheismus haben die Religionsstifter diese Frage beantwortet und vorgegeben, was der Gläubige zu sich nehmen darf und was nicht. Ob Echnathon, Moses, Jesus oder Mohammed – die Stifter predigten, was Wunsch und Wille Gottes sei und wie man ihm täglich seinen Gehorsam zu zeigen hat. Die Speisegebote bieten sich als permanenter Liebesbeweis an, weil sie tief in die Privatsphäre greifen.
Jeder muss essen und trinken; und die Mahlzeiten finden meist zu bestimmten Zeiten statt. Man pausiert, lässt die Arbeit ruhen, weil man sich zum Essen Zeit nehmen muss und sich meist in Gesellschaft befindet. Wer sich dafür keine Zeit nimmt, sündigt. Streetfood ist heidnisch und „Coffee to go“ auch. Die Essenspause schenkt man Gott, indem man isst, was er einem vorgeschrieben hat. Verzicht und Einschränkung werden dabei nicht als Verlust von Freiheit gesehen, sondern als Ausdruck religiöser Liebe und Demut. Die tagtägliche Ernährung ist weder Luxus noch Trieb, sie ist lebenserhaltend. Daneben gibt es aber die Lust, zu kauen, zu schmatzen, zu saugen, zu lutschen, zu lecken, zu beißen oder zu schlucken.
Diese Triebe waren Gegenstand der psychoanalytischen Aufklärung der ersten Generation. Demnach können sich Triebe jenseits des Hungers bilden, übertrieben werden und süchtig machen; im Extrem führen sie zum Tod. Zugleich gibt es in uns gewissensbezogene Instanzen, die gegensteuern. Hier hält man sich zurück, kontrolliert und zügelt sich selbst, was mit dem Verhungern enden kann.
Beim Trieb wollen religiöse Speisegebote von außen domestizierend eingreifen. Die Vorstellung, es sei ein Dienst an Gott, sich zu versagen, was größte Lust bereitet, ist die Grundlage solcher Gebote. Ob Sex, Wein- oder Fleischgenuss – alles, was Hochgefühl erzeugt und einen wirklich als Passion ergreifen kann, wird im Namen des Höheren ritualisiert oder tabuisiert, da die höchste Hingabe allein Gott gehören darf. Der irrationale Reinheitswahn, den die Gebote dabei entfachen, beruht auf dem Gedanken, dass das, was man isst – also was reinkommt – rein sein soll. Luther hat das orale Reinheitsgebot anders gedeutet: Es käme nicht darauf an, was reinkommt, sondern darauf, was aus dem Mund herauskommt.
Die jüdische und die islamische Religion regeln mit der Strenge ihrer Speisegebote jeden Tag, das Christentum geht längst nicht mehr so weit. Dennoch soll auch hier beim Fleischgenuss Maß gehalten werden, da er als Ursache der Begierde gesehen wird, die Wollust und Leidenschaft schürt. Fleischverzicht und Enthaltsamkeit beschränken sich meist auf Fastenzeiten und fleischfreie Tage, die köstliche Fastenspeisen aus Fisch, Gemüse oder Käse hervorgebracht haben. Etwa Aalpastete, Lachs in Heubouillon oder gebackene Knoblauchknollen mit Weinbergschnecken.
Die christliche Freiheitsvorstellung beim Essen beruht auf dem Unterschied von kultischer und ethischer Reinheit, wie sie der Apostel Paulus im Brief an die Galater proklamiert hat. Die frühen Christen befolgten noch die strengen Speisegebote der Thora. Allein die Tatsache, dass die katholischen Bußbücher bis ins 12. Jahrhundert von Fragen der rituellen Reinheit umgetrieben wurden, zeigt ihr langes Nachwirken im Christentum, das gern behauptet, die jüdischen Speisevorschriften zugunsten der universalen Sendung des Herrn abgeschafft zu haben.
Christliche Theologen betonen mit einem latenten Antijudaismus gern den ethischen Charakter des Christentums. Es käme heute nicht mehr auf kultische Reinheit an, sondern darauf, sittlich gut zu handeln. Der Kult ums Essen, wie er in Islam und Judentum gefordert werde, sei überholt, unser Verhältnis zu den Speisen rationaler. Das ist reines Wunschdenken; man braucht sich nur eine Hackfleischverordnung oder das Bundesseuchengesetz anzuschauen, wo der alttestamentarische Reinheitsgedanke noch präsent ist: „Behältnisse, in denen Lebensmittel aufbewahrt oder feilgehalten werden, dürfen nicht unmittelbar auf dem Boden abgestellt werden. Der Abstand der Lebensmittel vom Boden muss mindestens vierzig Zentimeter betragen. Die Lebensmittel sind so aufzubewahren und feilzuhalten, dass sie von Kunden nicht berührt, angehaucht, behustet oder sonst beeinträchtigt werden können.“
Essen ist die alttestamentarische Ursünde schlechthin, der Biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis versinnbildlicht das Inkorporieren des Wissens. Die Erkenntnis ist ernüchternd, sie bedeutet: Du bist sterblich, du musst im Schweiße deines Angesichts dein Auskommen verdienen, und die Frauen müssen unter Schmerzen Kinder gebären. Wenn man dieses Wissen gefressen hat, wird einem die eigene Endlichkeit bewusst. Essen ist ein oraler Akt mit der Konsequenz, dass das Wertlose aus jeder Nahrung nach dem Inkorporieren ausgeschieden wird. Das Wertvolle nimmt der Körper auf, der Rest wird entleert. Bei der Scheidung des Oralen vom Analen kommt das Unreine ins Spiel, das alle Religionen als das Böse austreiben wollen. Das Unreine entsteht, weil das Anale, das ja zur menschlichen Ernährung zwangsläufig gehört, moralisch geregelt werden soll. Das Unreine darf weder in den Körper gelangen noch im Körper bleiben. Dem folgen dann ganz konkrete Praktiken, wie man sich von Unreinem, wie Sünde und Amoralischem, reinigen soll.
Religiöses Speisen will das Unreine von vornherein ausschließen und die „bösen“ Lusttriebe zügeln, was freilich nicht funktioniert. Wenn man einen Trieb unterdrückt, etwa die Lust zu essen, entsteht sofort ein neuer Trieb, wie die Lust, sich bis zum Masochismus zu zügeln. Das Problem ist, dass der Mensch aufgrund seiner Triebe nie befriedigt werden kann und auch nie trieblos sein kann. Jeder Trieb kommt wieder und fordert mehr. Schon in der Ruhephase nach einem gelungenen Essen kommt einem der Gedanke, wie man den Kick beim nächsten Ma(h)l anders und noch intensiver haben kann.
Lustvolles Essen beruht einmal auf einem degustatorischen Moment, dem Geschmackserlebnis im oralen Raum. Hier genießt man Aromen, die beim Riechen und Schmecken wahrgenommen werden. Ein weiterer Aspekt der Esslust entsteht durch die vegetative Fülle, weil die Reizstoffe des Essens (Säuren, Gerbstoffe, Fette etc.) durch ihre Intensität im Körper weiterwirken. Sie werden im Magen-Darm-Trakt freigelegt und entfalten dabei ihre Wirkung im Organismus. Hierbei entsteht Genuss durch die vegetative Fülle, da sich der menschliche sinnliche Trieb in der Viszera entfaltet.
Der Vorwurf der Völlerei, den religiöse Instanzen wie weltliche Ernährungsberater gegen das genussvolle Speisen stets hervorbringen, entsteht daraus, dass es in uns einen Drang nach Fülle gibt, der auf der Sehnsucht nach Erfüllung beruht. Hier zeigt sich die Möglichkeit und Freiheit des Menschen, sich selbst Erfüllung ohne Mangel im Erleben der Ganzheit zu schenken – unabhängig von einer höheren Instanz. Diese Autonomie-Möglichkeit bedeutet, dass jeder die Fähigkeit hat, seinen Geschmackssinn zu entwickeln und zu sublimieren. Und jeder kann raffinierte Speisen selbst komponieren und herstellen. Das kulinarische Ergebnis ist in allen Sinnen sichtbar, riechbar und schmeckbar.
Dieser Autonomiegedanke gefährdet den Glauben an einen absoluten Schöpfer als Quelle des Wohlbefindens außerhalb des Menschen, weshalb an diesem Punkt jeder religiöse Fundamentalismus ansetzt und kulinarische Erfüllung verbietet oder einschränkt. Paradoxerweise werden Speisevorschriften rational begründet. Sie seien gesund und würden unser Wohlbefinden erhöhen. Ein Verfahren, das dem Grundsatz des Glaubens völlig widerspricht. Entweder glaubt man, oder man weiß etwas aus Erfahrung oder Nachvollzug von Argumenten. Hier kippt das theologische Argument ins Pseudowissenschaftliche und verschleiert sich als Glauben im wissenschaftlichen Gewand. Ausgeblendet wird, dass jede Wissenschaft auf Unglauben beruht.
Ob in der Mode, Kunst, Kultur oder Kulinarik – wer mit Genuss spielt, kann seine Triebe immer übertreiben und Grenzen überschreiten, die er nicht kennt, womit er sich gegen Konventionen stellt und Traditionen neu wertet. Dieser Spieltrieb in der Ekstase soll durch religiöse Gebote beschnitten werden. Trotzdem gibt es rund um das religiöse Speisen eine beachtliche kulinarische Genusskultur, die sich in den Duldungsräumen der heiligen Gesetze entwickelt hat. So hat die jüdische Küchenkultur Wege gefunden, trotz der Gebote in ihren Speisen den Genuss unterzubringen.
Jüdische Küche ist etwas Wunderbares, sie beruht auf Speisen, die echte geschmackliche Präsenz entwickeln können. Gerade das Schabbatgebot verhilft vielen jüdischen Gerichten zu geschmacklicher Besonderheit. Da ein gläubiger Jude am Schabbat bekanntlich nicht kochen darf, werden die Speisen bei den Chassiden am Tag zuvor begonnen und am Schabbat vollendet, weil das Begonnene nach dem Gesetz noch zum Vortag zählt. Die Folge ist, dass traditionelle Schabbatgerichte wie Borscht, Hühnersuppe und Tscholent (Schmortopf mit Rind, Gemüse, Kraut oder Bohnen etc.) über Nacht durchziehen und intensiver schmecken.
In vielen protestantischen Gegenden ist eine Understatementkultur entstanden, die das Genussthema diskret verhandelt. Dass evangelische Regionen Genusswüsten seien und Protestanten unsinnliche Zeitgenossen, die nichts von gutem Essen verstünden, ist ein Klischee. Genuss bedeutet hier, dass man kein Aufhebens darum macht, Maß hält und dennoch zum Zug kommt, indem man sich das Gute häppchenweise gönnt. Pralinen oder feine Konfitüren sind meist raffiniert komponiert. Gerade in der Schweiz hat sich unter dem Einfluss des strengen Calvinismus die Tradition feinster Liköre, Geiste und Schokoladen entwickelt. Ein frommer Protestant will zeigen, dass er genießen könnte, wenn er wollte und gottlos wäre. Zugleich will er aber seine Treue zu Gott, Moral und Sittlichkeit beweisen, indem er widerstehen kann. Protestanten kennen durchaus den Genuss, doch sie wollen ihn nicht durch Freiheit erreichen. Sie wollen ihn beherrschen. Das hat Fingerfood und Miniportionen populär gemacht, was damit begründet wird, dass es gesund sei, zu verzichten.
Das Gegenteil geschieht beim katholischen Festessen. Hier besteht das genussverschaffende Moment darin, dass man sich zuvor bei Gott für seine reichen Gaben mit einem Gebet bedankt. Man sagt damit, dass der Tisch für den bei uns gastierenden Gottessohn gedeckt ist. Allein mit seinem Beistand war es möglich, Köstlichkeiten wie Nonnenfürze in Gesöff (süße Mini-Krapfen aus Brandteig) oder Waffeln der Vergebung (mit Schokofüllung) zubereiten zu können. So kann man bis zum Umfallen völlern, denn was Gott gegeben hat, kann nicht schlecht sein. Die Vorstellung nämlich, dass das Gute vom Teufel kommt, ist ketzerisch. Es kann doch nur von oben kommen. Oder?
TILL EHRLICH, Jahrgang 1964, ist freier Autor und lebt in Berlin. Einmal im Monat serviert er die Sättigungsbeilage im taz.mag