: Ein Mann mit Mission
Wer mit Musik handelt, braucht Leidenschaft, ein Konzept und am besten auch eine Geschichte. Das alles hat Henryk Gericke, Punk, Lyriker und DJ. 1. Teil einer Serie über die Plattenhändler von Berlin
VON JÖRG SUNDERMEIER
Alles ist gut. Beziehungsweise: „alles ist gut“. So heißt ein Gedicht aus dem Gedichtband „Eine kommentierte Auswahl ungeschriebener Gesetze“ von Henryk Gericke, der im Münchner Ludewig Verlag erschienen ist. Ist alles gut? „ich liebe die sonne / zum schein. im guten glauben / an das böse. im aufruhr / zwischen himmel und erde, / ein drittes zu sein. // man hat vertrauen, / bis es weicht. jemand glaubt / an meiner statt. ich bete für gott, / daß es abflaut und der wind / die segel streicht.“ Gericke ist kein besonders fröhlicher Mensch, so scheint es. Er ist mit der Welt nicht ineins. Er ist allerdings auch kein besonders verbitterter Mensch. Gericke ist Punk. Gericke ist Lyriker. Gericke legt auf. Gericke ist Plattenhändler. Ein Mann mit einer Mission.
Viele Jüngere in dieser Stadt kennen Gericke vor allem unter seinem Nom de Guerre Toth One Tet, unter dem er im Café Zapata oder im Kaffee Burger auflegt. Andere Leute mit Ostsozialisation kennen ihn als Teil der heute oft salopp kategorisierten, so genannten Prenzlauer-Berg-Lyrikszene. In der Tat war er dort, zwischen Bert Papenfuß, den Brüdern Ronald und Robert Lippok oder Egmont Hesse und obschon einer der Jüngsten, nicht eben eine Randfigur.
Direkt nach der Wende begründete er den Galrev Verlag mit, der schnell zu einem wichtigen Verlag für neue deutsche Lyrik wurde. Als jedoch der Mitbetreiber Sascha Anderson als Stasi-Mitarbeiter enttarnt wurde, sah Gericke keinen Grund mehr zu bleiben – er, der in der DDR einer der verfolgten Punks war, konnte sich nicht mit einem – wenn man denn so will – Agenten der Gegenseite arrangieren. „Es war dann eben Zeit zu gehen“, kommentiert Gericke recht nüchtern seinen Ausstieg bei Galrev. Er ist nicht vergesslich, doch trauert er der Geschichte auch nicht nach.
Mit Platten hat er schon immer gehandelt. Musik ist für ihn sehr wichtig, gute Musik gilt es durchzusetzen. Noch zu DDR-Zeiten betrieb er einen klandestinen Handel mit West-LPs und -Singles, an die er über Kontakte kam. Denn das, was er und seine Freunde hören wollten, wurde in der DDR nicht verkauft, die staatliche Amiga lizenzierte nur Platten von Popgrößen wie ABBA. Punk, New Wave, Geniale Dilettanten und andere, seitens der DDR-Regierung als subversiv eingestufte Musik war nicht erhältlich. Gericke handelte also mit schwer gesuchten Raritäten. Nach dem Fall der Mauer eröffnet er gemeinsam mit Freunden einen CD-Verleih, da er zunächst nicht glaubte, dass ein Plattenladen im Ostteil funktionieren würde. Als das kommerzielle Verleihen von CDs dann von der Plattenindustrie unterbunden wurde, wandelte sich der Laden in einen Second-Hand-Shop. „Damals hatte ich den besten Ankauf meines Lebens“, erinnert er sich. „Ein Typ wollte in ein Bhagwan-Kloster gehen und allem Besitz entsagen.“
Dieser Mensch habe sich wie im Rausch eine Unmenge von Platten gekauft, die er in der DDR nie bekommen konnte, King Crimson und dergleichen, aber zum Teil nicht einmal angehört. Nun wollte er alles schnell loswerden. Gericke war begeistert. „Mit zitternden Händen blätterte ich mich durch die zum Teil noch verschweißten Platten.“ Mit solchen Sammlungen wurde der Bestand des Second-Hand-Plattenladens aufgebaut. Seit fünf Jahren arbeitet Gericke im Freak-Out-Plattenladen in der Rykestraße, in einem Laden diesmal, an dem er nicht geschäftlich beteiligt ist. Er arbeitet auch nicht mehr täglich, sondern nur zwei- bis dreimal die Woche. Dieser Laden ermöglicht seinen Kundinnen und Kunden eine Zeitreise – der Schwerpunkt liegt, das ist auf den ersten Blick ersichtlich, auf Rock. Das ist selten in Berlin, es gibt nicht mehr viele Läden, die ein ausgesuchtes Rock-’n’-Punk-Programm fahren und dabei guten Geschmack beweisen und nicht jeden Oi-Scheiß ausstellen. Doch ist man hier auch sonst nicht verbohrt, das Elektronika-Regal ist anständig geführt, Jazz ist gut sortiert. Dennoch: Poster mit Surf-Ästhetik zieren die Wände, der Laden ist verwinkelt, Vinyl ist in rauen Mengen vorhanden, Nachpressungen und Neuauflagen sind lieferbar.
In einem kleineren Raum dann finden sich Second-Hand-Platten, diese Abteilung wird, wie könnte es anders sein, von Gericke betreut. Er habe die Anzahl der Singles verdoppelt, man sei jetzt einer der zwei besten Läden für Singles in der Stadt. Ich erzähle Gericke begeistert von einer seltenen The-Fall-CD, die ich in seinem Laden zum Normalpreis kaufen konnte, obschon sie im Internet nicht für unter 40 Euro zu finden sei. Gericke begeistert sich: „Kennst du die letzte Fall-Single?“ Nein, kenne ich nicht. Er macht mich sehr neugierig, nein, sehr, sehr neugierig, nein, gierig – leider aber, muss er dann gestehen, ist die Single nicht mehr zu kriegen. Das Jaulen eines Fans ist zu hören.
Fan ist auch Gericke. Ihn prägt eine tiefe Liebe zu den Stranglers. 1978, als Vierzehnjähriger, hörte er zum ersten Mal das Stück „Nice’n’sleazy“ im Radio, er war verwirrt. Als der Moderator dann sagte, das sei die Band The Stranglers, „mit dem Bass, der aus der Mülltonne kam“, wurde, so Gericke, „der Grundstock für meine Liebe gelegt“. Bis heute streut er, so er kann, Stranglers-Stücke in seine DJ-Auftritte ein.
Er sorgt gemeinsam mit dem Besitzer des Freak-Out-Ladens dafür, dass derartige Lieben gepflegt werden können. Fast entschuldigt er sich, dass so viele alte Fall-Alben nicht mehr zu besorgen sind. Er kennt mein Sammlerleid. Er beobachtet dergleichen jeden Tag.
„Die Leute haben ja kein Geld mehr. Viele Leute, die früher fünf LPs in der Woche gekauft haben, kaufen jetzt vielleicht eine im Monat. Doch sie kommen oft, hören neue Platten durch, sind manchmal Stunden im Laden und kaufen dann nichts. Naja, sage ich mir, die werden schon wieder kaufen, wenn sie wieder Geld haben.“ Denn die Liebe zur Musik und die Zwänge, die das Fanleben mit sich bringt, lassen nicht nach. Missionare wie Henryk Gericke sorgen dafür, dass es so bleibt. Alles ist gut. Oder wird es.