: Blick auf die französische Diskussion
STAATSTHEORIE Noch unübersetzte Aufsätze von Giorgio Agamben, Jean-Luc Nancy, Wendy Brown, Alain Badiou und Slavoj Žižek
Obamas Sieg hat nur gezeigt, was man in der politischen Theorie schon lange wusste: Die Demokratie ist zurück. Insbesondere im angelsächsisch geprägten Diskurs erlebte die Demokratieforschung in den letzten Jahren eine beispiellose Renaissance. Wie für die angelsächsische Theorie üblich, wird dabei jedoch die Systemfrage nicht gestellt.
Der nun in Frankreich erschienene Sammelband „Démocratie, dans quel état?“ widmet sich dem Demokratiebegriff aus der Perspektive der marxistisch orientierten Theorie. Wie der zweideutige Titel schon sagt, geht es unter anderem um die Fragestellung, in welcher Art von Staatswesen Demokratie ausgeübt werden solle. Darauf antwortet das Who’s who der internationalen linken Philosophie: Autoren wie Giorgio Agamben, Jean-Luc Nancy, Wendy Brown, Alain Badiou und Slavoj Žižek.
Selbstregierung des Volkes
Alain Badiou referiert zunächst Platons Demokratiekritik. Nach Platon ist das Leben in der Demokratie durch Beliebigkeit und Unbeständigkeit gekennzeichnet. Dies erschwere eine Selbstregierung des Volkes, verlange das Regieren doch eine gewisse Voraussicht.
Im Anschluss an Platon verortet Badiou das Problem der demokratischen Positionslosigkeit in der Unterordnung aller Lebensbereiche unter das Primat der ökonomischen Zirkulation. Als Lösung skizziert er einen „Aristokratismus für alle“: Die Bürger der Demokratien sollen sich von ökonomischen Zwängen entbinden, um auf verantwortliche Weise politisch agieren zu können.
Žižek stellt die Frage nach einer „Diktatur des Proletariats“ unter demokratischen Bedingungen. Ebenso wenig, wie es eine Selbstanalyse ohne Analytiker gebe, gebe es eine Selbstregierung des Volkes ohne ein absolutes Element politischer Willensbildung, an welchem sie sich messen könne.
Diktatur des Proletariats
Einen solchen Bezug auf ein Absolutes stelle die „Diktatur des Proletariats“ dar. Unter demokratischen Rahmenbedingungen sieht Žižek diese bei den lateinamerikanischen Populisten Chávez und Morales verwirklicht.
Chávez etwa, so Zizek, respektiere „zwar die Bedingungen des demokratischen Wahlprozesses, die Quelle seiner Legitimität befindet sich aber nicht dort, sondern in der privilegierten Beziehung, welche er zu den Besitzlosen in den Favelas unterhält“. Aufgrund ihrer völligen Ausgeschlossenheit von der politischen Macht könnten die Besitzlosen die Rolle eines absoluten Bezugspunktes in der demokratischen Politik spielen, sagt Žižek.
Brown verfolgt die Idee einer demokratischen Revolution in Permanenz, Agamben widmet sich der Übersetzung von „politeia“ bei Platon und Aristoteles, und Nancy entwirft eine „unendliche Demokratie“.
Der Band überzeugt durch die Abwesenheit akademischer Formalia und seine polemische Schärfe. Er ist ein Beitrag auf einem Feld, das sich die kritische Theorie zumeist noch erschließen muss. JOHANNES THUMFART
■ Giorgio Agamben, Alain Badiou, Daniel Bensaïd, Kristin Ross, Slavoj Žižek u. a.: „Démocratie, dans quel état?“ La Fabrique, Paris 2009, 160 Seiten, 13 Euro