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Archiv-Artikel

Hartz IV ist kein Grund zur Abschiebung

Der Europäische Gerichtshof stärkt mit einem Urteil die Rechte türkischer Staatsbürger. Nicht zum ersten Mal. Doch vielerorts ignorieren die Ausländerbehörden diese Rechtsprechung, kritisiert die Türkische Gemeinde

„Das Aufenthaltsrecht darf nicht als Mittel zur Disziplinierung eingesetzt werden“

BERLIN taz ■ Kenan Kolat ist sichtlich gut aufgelegt. „Der Europäische Gerichtshof hat die Rechte von türkischen Staatsangehörigen bestätigt“, sagte der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD). „Das Aufenthaltsrecht darf nicht mehr als Mittel zur Disziplinierung eingesetzt werden.“

Genau das hatte die Ausländerbehörde im hessischen Wetteraukreis versucht. Es wollte einen jungen Türken, der seit seinem zweiten Lebensjahr in Deutschland lebt, abschieben – weil er arbeitslos ist und seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann. Das aber, so urteilte der EuGH, ist nicht zulässig.

Der 23-jährige Hakan zog als Kind aus der Türkei zu seinen Eltern, die in Deutschland arbeiteten. Mit 16 schmiss er die Schule, fand keinen Job, Maßnahmen des Arbeitsamts brach er ab. Schließlich bezog er ALG II. Die Ausländerbehörde verlängerte daraufhin seine Aufenthaltserlaubnis nicht. Sie forderte ihn zur Ausreise auf und drohte mit Abschiebung.

Er legte Widerspruch ein, dann klagte er, der Fall landete beim EuGH. Und dessen Urteil ist eindeutig: Ihm darf das Aufenthaltsrecht nicht entzogen werden, „auch wenn er seit der Beendigung des Schulbesuchs im Alter von 16 Jahren keiner Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nachgegangen ist und an staatlichen Berufsförderprogrammen zwar teilgenommen, sie aber nicht abgeschlossen hat“. So steht es im Gerichtsurteil. Grundlage dafür ist ein sogenanntes Assoziationsabkommen zwischen der EU und der Türkei aus dem Jahr 1980, nach dem zugezogene Ehepartner und Kinder nach einem Aufenthalt von fünf Jahren EU-Bürgern gleichgestellt sind.

Es ist nicht das erste Urteil dieser Art, was der EuGH fällt. Stets hat es die Rechte der betroffenen Türken gestärkt. Umso erstaunlicher ist es, dass nicht nur der Wetteraukreis diese Rechtsprechung nicht wahrzunehmen scheint. „Allein in Berlin wissen wir von 150 Fällen, in denen Türken, die unter diese Regelung fallen, wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld II die Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert wird“, sagte Safter Cinar vom Berliner TGD-Landesverband. Bundesweit geht die TGD von mehreren tausend Fällen aus.

„Die Innenbehörden von Bund und Ländern dürfen diese Rechtsprechung nicht länger ignorieren“, fordert Kolat. In einem ersten Schritt müsse nun das Aufenthaltsgesetz an die Rechtsprechung des EuGH angepasst werden. Es sei an der Zeit, die Zugehörigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund „mit ihren Schwächen und Stärken zu akzeptieren“. Probleme wie fehlende Ausbildungsabschlüsse, Arbeitslosigkeit oder Kriminalität müssten mit Instrumenten der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik oder mit Sanktionen des Strafrechts angegangen werden, „aber nicht mit dem Knüppel des Ausländerrechts“.

Kolat hat seine Forderungen den Innenministern in einem Brief mitgeteilt. Im Bundesinnenministerium sieht man keinen Handlungsbedarf. Das Urteil des EuGH wirke sich nicht auf deutsches Recht aus, so ein Sprecher. Es gelte ausschließlich für Familienangehörige assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger. Für alle anderen Ausländer gelte das Aufenthaltsgesetz. SABINE AM ORDE

EuGH-Aktenzeichen: C-453/07