piwik no script img

Archiv-Artikel

Ohne distanzierenden Archivschleier

BEFREIUNG „German Concentration Camps Factual Survey“ zeigt restauriertes Filmmaterial aus deutschen Konzentrationslagern (Forum)

VON SIMON ROTHÖHLER

Von Alfred Hitchcocks „verlorenem Holocaust-Film“ war häufig die Rede, als Anfang des Jahres eine anstehende Forumsveranstaltung publik wurde. Es ging um die rekonstruierte Fassung eines Dokumentarfilms, dessen erste Version 1984 auf der Berlinale aufgeführt worden war. Vor 30 Jahren hieß der Film „Memory of the Camps“, war 55 Minuten lang. Die vergangenen Sonntag gezeigte Fassung ist nicht nur 15 Minuten länger, sondern firmiert auch unter einem anderen Titel: „German Concentration Camps Factual Survey“.

Von einem Director’s Cut kann aber nicht die Rede sein – schon gar nicht, wenn damit Hitchcock gemeint ist. Der englische Regisseur taucht in den Credits nur als „Treatment Advisor“ auf. Sidney Bernstein, der 1945 als verantwortlicher Produzent aus dem erschütternden Material alliierter Kamerateams einen Film herzustellen versuchte, welcher die Deutschen mit einem Zeugnis ihrer Verbrechen konfrontieren sollte, hatte den bereits in Hollywood arbeitenden Hitchcock nur peripher zu Rate gezogen.

Toby Haggith, der die Restaurierung für das britische Imperial War Museum begleitete, wies bei der Deutschlandpremiere im Delphi-Kino denn auch nachdrücklich darauf hin, dass es sich bei dem ursprünglich geplanten Projekt um eine kollektive Anstrengung gehandelt hatte. Die Frage der Autorschaft verweist vor allem auf die Kameraleute und Fotografen (im Fall der britischen Truppen gehörten sie der „Psychological Warfare Division“ an), die 1944/45 auf die bis dato unvorstellbaren Zustände in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern mit filmdokumentarischer Intuition reagieren mussten. Sie waren es, die als Erste eine Form für ein Verbrechen zu finden versuchten, das wie kein zweites die grundlegende philosophische Frage nach den Grenzen eines „Standhaltens im Bilde“ (Adorno) aufwerfen sollte.

Die nun rekonstruierte Version konnte dank eines Archivfundes auf das gesamte, rund 14-stündige Drehmaterial zurückgreifen, wozu auch sowjetische Aufnahmen aus Auschwitz zählen. 1945 war das Projekt abgebrochen worden, weil die Briten zu der Überzeugung gelangt waren, dass die deutsche Bevölkerung mit kontraproduktiver Ablehnung reagieren würde. Da die Priorität zu diesem Zeitpunkt darauf gelegt wurde, das Tätervolk zu Wiederaufbauleistungen zu mobilisieren, hielt man Schuldkonfrontation und Re-education für später zu realisierende Ziele. Der britische Film wurde nie fertiggestellt. Billy Wilder erstellte im Auftrag des United States Department of War eine 22-minütige Version, die 1945 unter dem Titel „The Death Mills“ veröffentlicht wurde.

Mit „German Concentration Camps Factual Survey“ liegt die im Vergleich zu den Ausgaben von 1945 und 1984 umfassendste Version vor. Szenen aus weniger prominenten Lagern wie dem KZ Ebensee sind zu sehen oder die medizinische Erstversorgung der Überlebenden.

Der Rekonstruktion gelingt die Wiederherstellung eines historischen Dokuments, das aus heutiger Sicht nicht nur die Verbrechen, sondern auch das unmittelbar nach der Befreiung vorhandene Wissen von diesen dokumentiert. Dazu gehören lücken- bzw. fehlerhafte Angaben zu den Opferzahlen oder eine aus propagandistischen Gründen gewählte Universalisierung der Opfergruppen. Die Briten gingen 1945 davon aus, dass es im Sinne des Wiederaufbaus sei, die Zentralität der Vernichtung der europäischen Juden nicht ausdrücklich zu erwähnen. Der deutsche Antisemitismus wurde als derart tiefsitzend eingestuft, dass man annahm, die Anerkennung der Verbrechen wäre auf diese Weise leichter zu initiieren.

Irritierend klare Bilder

Trotz der sorgfältig mitrekonstruierten Zeitbedingtheit von „German Concentration Camps“ stellt eine heutige Rezeption des Films unter Kinobedingungen auch eine neue Form von Unmittelbarkeit her. Einerseits ist den digital restaurierten, irritierend klaren Bildern der distanzierende Archivschleier genommen. Zum anderen sind sie nicht ikonische Ausschnitte gemäß der Konventionen des Geschichtsfernsehens, sondern Teil einer größeren filmischen Montagebewegung. Insofern stellt die Rekonstruktion nicht nur ein bedeutendes Werk der Dokumentarfilmgeschichte wieder her, sondern stiftet auch einen neuen, angemessenen Wahrnehmungsrahmen.

■ Heute, Kino Arsenal 1, 20.15 Uhr