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Archiv-Artikel

Unberührt in der eisernen Lunge

LIEBESLEKTIONEN In „The Sessions - Wenn Worte berühren“ von Ben Lewin wird die wahre Geschichte von der Sextherapie des an schwerster Kinderlähmung erkrankten Mark O‘Brien erzählt

Es wird sachlich und detailliert gezeigt, worin die Behinderungen von Mark bestehen und welche Schwierigkeiten er überwinden muss, um zum ersten Mal in seinem Leben Sex mit einer Frau zu haben.

VON WILFRIED HIPPEN

Was für die meisten Menschen eine Selbstverständlichkeit ist, bleibt für einige unerreichbar. So wird sich Mark O‘Brien nie natürlich bewegen können. Er ist ein Poet, Schriftsteller und Journalist: witzig, klug und sehr belesen. Doch seit er als kleiner Junge an Kinderlähmung erkrankte, kann er kaum einen Muskel in seinem Körper bewegen und muss die meiste Zeit seines Lebens in einer eisernen Lunge verbringen.

Rund um die Uhr wird er von Pflegern betreut, dabei kann er alles fühlen und hat Begierden wie ein normaler heterosexueller Mann. Ihm fehlen menschliche Berührung, Intimität und Liebe und so meint er, mit 38 Jahren wäre es Zeit für ihn, zum ersten Mal mit einerFrau zu schlafen. Deshalb begibt er sich in die Hände einer Sextherapeutin und diese Erfahrung geht für ihn weit über das Körperliche hinaus.

Die wahre Geschichte basiert auf dem Artikel „On Seeing a Sex Surrogate“, den O‘Brien 1990 schrieb. Ben Lewin hat sie als ein anrührendes, zugleich humorvolles und melancholisches Drama inszeniert. In „The Sessions“ wird sachlich und detailliert gezeigt, worin die Behinderungen von Mark bestehen und welche Schwierigkeiten er überwinden muss, um zum ersten Mal in seinem Leben Sex mit einer Frau zu haben. Gerade diese Präzision ist es, die den Film davor bewahrt, dass er prüde oder aber schlüpfrig wirkt.

Von der ersten Einstellung an, die ihn morgens gefangen in seiner eisernen Lunge zeigt, kommt der Film seinem Helden sehr nahe. Und John Hawkes spielt ihn nicht nur absolut überzeugend, was alleine schon erstaunliche Körperbeherrschung und Einfühlungsvermögen erfordert, sondern er drückt dessen Nöte, Sehnsüchte, Enttäuschungen und Triumphe so intensiv und glaubwürdig aus, dass das Publikum vom ersten Moment an auf seiner Seite ist. Hawkes fiel mit seinem markanten Gesicht, das nicht ganz in unsere Zeit zu passen scheint, zuerst in der Westernserie „Deadwood“ in der Rolle des jüdischen Händlers Sol Star auf. Stimmungsmäßig war „Winter Bone“ auch ein Western, dort spielte er eine Figur mit dem schönen Namen „Teardrop“ und in Spielbergs „Lincoln“ ist er wieder eine historische Figur.

Eine ähnlich erstaunliche schauspielerische Leistung gelingt auch Helen Hunt in der Rolle der Sex-Therapeutin Cheryl, die mit Takt, Geduld und Zärtlichkeit ihrer Arbeit nachgeht.

Mark ist ein gläubiger Katholik und geht zu einem neuen Priester in seiner Gemeinde zur Beichte. William H. Macy spielt diesen Vater Brehan als einen für Kalifornien typischen in die Jahre gekommen Hippie, der als im Zölibat lebender Außenstehender, eine interessante Perspektive bietet. Mit ihm bespricht Mark, ob sein Tun sündhaft sei und bekommt darauf eine zugleich komische und weise Antwort.

Mit Ausnahme einer verbiesterten Pflegerin am Anfang des Films sind alle Figuren mit großer Sympathie gezeichnet. Und wenn Mark schließlich von drei Frauen geliebt wird, hat dies kaum noch etwas mit Sex zu tun. Dieser war lediglich eine notwendige Stufe, über die Mark ein glücklicheres und reicheres Leben führen konnte.