: Spiegel Online und das Wikileaks-Leak
ENTHÜLLUNGEN Im Internet gab es schon vorab Infos zu den heiklen Dokumenten. Das schafft Publicity
Egal wen man am Sonntag bei Spiegel Online (SpOn) anrief, niemand mochte Auskunft über das Leck bei den Wikileaks-Enthüllungen geben. Dass man überhaupt unter Journalisten miteinander gesprochen hatte, sollte lieber geheim bleiben.
Dabei ging es nur um eine einfache Frage: Wie kam es dazu, dass Spiegel Online Informationen zu den heiß ersehnten und politisch hoch brisanten Wikileaks-Dokumenten, vor denen die USA große Angst haben, online stellte – eineinhalb Tage vor der offiziellen Sperrfrist am Sonntagabend gegen 22.30 Uhr? Online war bereits am Samstagnachmittag kurzzeitig ein Artikel zu lesen, der Details über die gefürchteten Dokumente verriet. Zwar wurde dieser schnell wieder vom Netz genommen – ist aber als Kopie und Screenshot von verschiedenen Usern wieder online gestellt worden. Wie es dazu kam, ob das Wikileaks-Leak Absicht oder Versehen war, will die stellvertretende SpOn-Chefredakteurin Jule Lutteroth nicht kommentieren. Letztlich ist es aber auch egal, die Aktion hat SpOn enorme Aufmerksamkeit eingebracht, so auch hiermit.
Was man dort vorab erfuhr? Spiegel Online schrieb in einem Artikel mit dem Titel „Fragen und Antworten“, dass es sich bei den Enthüllungen um 250.000 Depeschen handele, die US-Vertretungen in aller Welt an das Außenministerium in Washington geschickt hätten. Zudem gebe es 8.000 Direktiven der Zentrale an die Außenposten. Die meisten Depeschen seien aus den Jahren nach 2004, nur ein Dokument sei von 1966, insgesamt 9.000 Papiere stammten aus den ersten beiden Monaten dieses Jahres.
Allerdings erfuhr man auch, dass nur rund 15.000 Dokumente als geheim eingestuft seien. Und nur etwa 4.300 Depeschen seien so vertraulich, dass sie Ausländern nicht zugänglich gemacht werden dürften. Keines der Wikileaks-Dokumente trage den Stempel „Streng geheim“.
Unter der Überschrift „Was die Diplomatendepeschen wirklich aussagen“ schrieb Spiegel Online am Samstag: „Die Berichte aus den Ländern sind in der Regel von Diplomaten verfasst, also Botschaftern, Konsuln oder ihren Mitarbeitern. Meist enthalten sie Einschätzungen der politischen Lage im jeweiligen Land, Gesprächsprotokolle, Hintergründe zu Personalentscheidungen und Ereignissen – oder auch Psychogramme einzelner Politiker.“
„Psychogramme“ klingt eher nach Diplomatenklatsch, wie man auch in der Bild am Sonntag nachlesen konnte. Nach Informationen des Boulevardblatts werde vor allem Außenminister Guido Westerwelle politisch geschwächt, Kanzlerin Angela Merkel schon positiver beurteilt, während, wie sollte es anders sein, Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg am besten wegkäme. In den letzten Tagen haben amerikanische Diplomaten unter Federführung von Außenministerin Hillary Clinton etliche Länder, darunter auch Deutschland, kontaktiert, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Befürchtet wird, dass diplomatische Beziehungen erschüttert werden könnten. Philip Murphy, amerikanischer Botschafter in Deutschland, schrieb in Bild: „Es lässt sich schwer sagen, welche Auswirkungen das haben wird. Es wird zumindest unangenehm sein.“
Wie unangenehm es wirklich wird oder ob sich die Amis nur über Guidos spätrömische Dekadenz lustig machen, muss sich zeigen. Spiegel Online stellte aber schon einmal die Gretchenfrage: „Wie halten es andere Länder?“ Antwort: „Die Offenheit in den internen Dokumenten ist nicht ungewöhnlich. Nur nach außen hin ergeht sich die Weltdiplomatie in gedrechselten Formulierungen – nach innen wird durchaus Klartext gesprochen, das halten nicht nur die USA so.“ Egal ob Absicht oder nicht: Gegenüber Medien wie New York Times oder Guardian, die wie der Spiegel exklusiv Wikileaks-Enthüllungen veröffentlichen dürfen, hat das Leck für SpOn mehr Publicity gebracht. DIANA AUST
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