MITTE ALS LOCATION, ACKERSTRAßE MIT LAMPE, WO IST BURGER KING? : Am Wegesrand des Chics
VON ULRICH GUTMAIR
Angeblich wird kein großer Umsatz gemacht seitens der Modebranche in der Stadt. Berlin bleibt ein Ort, an dem mit symbolischer Münze bezahlt wird: Wir stellen unsere letzten Bombenschäden, die zwei noch besetzten Häuser, unseren Arme-Leute-Chic, die Zwischennutzungsarchitektur, also unsan janzen coolen Lifestyle zur Schau, damit die Touristen was zu sehen haben. Fotografen und sonstige unter der strengen Diktatur ihrer gierigen Augen stehende Magazinmenschen mit Facebookanschluss seit 1871 – sie wissen das genau.
Deswegen sieht man sie jetzt, während der Modewoche, überall rumlungern. Auch vor besonders extravaganten Locations wie der Monbijoubrücke. Auf der steht ein japanischer Redakteur und redet wie verrückt auf seinen Fotografen ein. Das männliche blonde Model steckt derweil mit seinen langen Beinen in einer Hose mit irgendwelchen Applikationen dran. Langweilen wird er sich kaum in der Hitze: Er schwitzt unterm Pelzkragen schon für die nächste Saison. Man kennt das alles aus Heidi Klums Show, in der junge Dinger für ihren Einsatz auf dem Markt trainieren, wie man zu einem weichen, anschmiegsamen und doch alles aus dem Weg räumenden Panzer zu einer höchst disziplinierten Rakete aus freundlicher Lockerheit wird.
Unten hängen Bommeln
Ein paar Ecken weiter hat eine andere Fachbesucherin der Modestadt (man erkennt sie gleich an ihren etwas zu schicken, zu neuen Klamotten – und natürlich ihren Blicken) was Schönes entdeckt. Das wird sich sicher gut machen in ihrem Blog: Straßenmode im ganz wörtlichen Sinn präsentiert sich ihr in der Ackerstraße. Künstler aus dem Schokoladen-Haus haben für die alte Oststraßenlaterne einen Lampenschirm gebastelt. Er ist aus lilafarbenem Stoff mit Mustern drauf. Unten hängen Bommeln dran.
Aus der Straßenlaterne ist eine überdimensionale Nachttischlampe geworden. Wie ein Menetekel dräut sie über Mitte, denn dem Schokoladen und dem benachbarten Club der polnischen Versager, der einst von der Torstraße hierher umgezogen war, drohen im August die Räumung. Dann werden in der Ackerstraße zwar nachts die Bürgersteige noch nicht hochgeklappt, denn es bietet hier auch das Muschi Obermaier seine nächtlichen Dienste an. Neuerdings wirbt die Absturzdisse mit dem Slogan „Die Kapelle am Wegesrand“ für sich.
Sich vorzustellen, dass die Torstraße einen Wegesrand hat, ist eine schöne Sache. Trotzdem muss man sich als ältlicher Mitte Boy schon langsam die Frage stellen: Ist es hier, auf dem besten Quadratkilometer der Welt, bald schon so weit wie auf dem scheußlichen Prenzlberg, wo vor ein paar Tagen die letzte Band gespielt und die letzte Bar geschlossen hat, weil die neuen Bürger bitte sehr jetzt auch mal ihre Ruhe haben wollen? Wie man hört, schrecken die neuen Michels mit ihren schwarzrotgüldenen Schlafmützen nicht mal mehr vor Angriffen auf das Wohnzimmer zurück. Und letztens brüllte doch wirklich in meinem eigenen Hinterhof jemand was von „Ruhe!“, nur weil Ronald mir um zwölf bei offenem Küchenfenster auf seinem iPhone was vorspielte.
Aber zurück zum Schokoladen. Mein halbes Leben lang bin dran vorbeigeradelt. Früher war ich auch hin und wieder drin. 1994 zum Beispiel beim Milch-Konzert. Sich Mitte ohne den Eimer, ohne den Burger King am Rosenthaler Platz und ohne Schokoladen vorzustellen, das fällt schwer. Man könnte fast in Trübsinn verfallen, wäre da nicht der junge Mann, der plötzlich fröhlich die Torstraße herunterspaziert. Auf seinem T-Shirt steht: „Make love, not babys“. Noch ist Mitte nicht verloren.