: Die Gerechten und der Teufel
BOLIVIEN Der Indiojunge wurde Minister, der Bauer Gouverneur. Alle sollten es gut haben. Heute glauben die Bergarbeiter von Potosí nur noch an den Teufel
■ Der Staat: Heißt seit 2009 „Plurinationaler Staat Bolivien“, regiert von der Movimiento al Socialismo (MAS) von Evo Morales. Seine Regierung verspricht den Bolivianern, vor allem den Indigenen, ein gutes, gerechtes Leben. Bodenschätze wie Gas, Silber und Lithium sichern ein Wirtschaftswachstum von 3,4 Prozent.
■ Die Bürger: 11 Millionen Einwohner, 70 Prozent gehören indigenen Völkern an, 30 Prozent sind Mestizen und Weiße. Das Prokopfeinkommen liegt bei 1.700 US-Dollar (in Deutschland sind es 42.710). In letzter Zeit mehren sich Streiks und Blockaden gegen Preiserhöhungen. Morales’ Beliebtheit ist um ein Drittel gesunken.
AUS LA PAZ ANJA MAIER
Auch einer wie David Choquehuanca war mal ein Kind. Ganz oben war er schon damals. So weit oben, dass Fremden, die in das ärmliche Andendorf am Titicacasee kamen, die Luft wegblieb. Dreitausendachthundert Höhenmeter – das hält ein verweichlichter Tieflandmensch nur schlecht aus.
Womöglich hat das Kind David damals, in den siebziger Jahren, für sich entschieden, das Obensein nicht mehr herzugeben in seinem Leben. Seine Familie war arm, ja, wie alle Aymaras. Aber er konnte sich etwas Besseres vorstellen als das, was die Politik für einen Indigenen wie ihn vorsah: arm zu leben und arm zu sterben und bis dahin für einen Hungerlohn zu schuften. Der Titicacasee ist ein kleines Meer im Himmel, einer der grandiosesten Orte der Welt. Dort mag David gestanden und gedacht haben: So weit oben will ich es – nur besser. Er hat es geschafft.
Heute sitzt David Choquehuanca hundert Kilometer entfernt vom Dorf seiner Kindheit in einem Palast in La Paz. Im Mai wird er fünfzig Jahre alt, und er hat sein Vorhaben in die Tat umgesetzt, er ist oben angekommen. David Choquehuanca ist Außenminister Boliviens. Und er ist der engste Vertraute und einflussreichste Berater von Evo Morales, dem Präsidenten.
Er ist das seit über fünf Jahren. Seit Evo Morales im Januar 2006 ins Amt kam und seinem Weggefährten Choquehuanca das Außenamt übertrug. Die beiden haben das Land verändert. Nicht immer so, wie sich Europas Idealisten das wünschen würden.
„Bolivien hat genau zwei Möglichkeiten“, stellt Choquehuanca klar: „Kapitalismus oder Sozialismus.“ Wohl hat die neue Regierung mit den westlichen Gas-, Öl- und Minengesellschaften Verträge ausgehandelt, die dem neuen Bolivien Milliardengewinne bringen. Wohl bekommen die Mittellosen in diesem ärmsten Land Lateinamerikas nun 200 Bolivianos Unterstützung im Monat, ebenso wie Schwangere und ihre Kinder. Und doch protestierten in den letzten Wochen Morales’ Wähler mit Straßenblockaden und Dynamitböllern gegen zu hohe Zucker- und Benzinpreise und für mehr Lohn. Der Präsident reagierte: Er beschwichtigte, nahm Preiserhöhungen zurück, erhöhte Löhne, er tat, was ein Politiker in der Klemme tut.
Das Sozialismusexperiment des Präsidenten und seines Außenministers, es trudelt in die Krise und droht zu scheitern. Man spürt das, wenn man durchs Land reist, wenn man mit anderen Leuten spricht als David Choquehuanca, wenn man in die Provinzen aufbricht und in die Silberminen hinabsteigt.
Draußen vor den Fenstern seines Büros, in den Straßen von La Paz, dieser Zweimillionenstadt, tobt besinnungslos der Verkehr, die Abgase und der Lärm der Dieselbusse betäuben die Sinne, in den Marktgassen brennt die Sonne den Indiofrauen auf die hohen Hüte. Sie sitzen zwischen Maiskolben und Alpakadecken, Quinoa und Kokablättern, haben ihre bunten Röcke um sich gerafft und die langen Zöpfe wie glänzende Schlangen über die Schultern gelegt. Frauen wie sie sind es, die David Choquehuanca zu dem gemacht haben, der er heute ist. Sie haben ihn und die MAS, seine Partei, gewählt. Weil er einer von ihnen ist, ein Indigener, der dafür sorgen soll, dass sie nie wieder wegen ihrer Herkunft gedemütigt werden.
Ihr könnt euch nicht mehr sicher sein
Jahrhunderte wurden die Indigenen unterdrückt. Die einst stolzen Inkavölker waren den spanischen Eroberern nur recht als Arbeitssklaven, um an die Bodenschätze zu kommen. Das Land war so reich an Silber, dass die Spanier prahlten, man könne von den Anden eine silberne Brücke bis nach Europa bauen. Die Indigenen hingegen sagen heute, man hätte diese Brücke aus Knochen ihrer ausgebeuteten Brüder schlagen können. Von zehn Millionen Opfern ist die Rede, die bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts für Europas Gier gestorben sind – erschlagen, erstickt und erfroren in den Minen.
In Bolivien ist diese Vergangenheit noch heute spürbar. Selbst als vor 200 Jahren Südamerika unabhängig wurde, änderte sich nichts für die Indigenen. Sie blieben arm. Mitte der Achtziger schlossen sich die Minderheiten zusammen gegen Oligarchen und transnationale Konzerne. Sie waren nun die Mehrheit. Der Koordinator der Kleinbauern war ein 25 Jahre alter Junge vom Titicacasee: David Choquehuanca. Er wollte seine Leute nach oben führen, an die Macht.
Das, was die Indigenen stets zusammengehalten hatte, ihre Spiritualität, ihr Glauben, ihre Liebe zu Pachamama, der Mutter Erde, griffen Vordenker wie er und Gewerkschafter wie Evo Morales auf. Sie machten aus der verstreuten eine konzertierte Aktion, traten zu Wahlen an, gaben den Indigenen ihren Stolz, ihre Identität zurück. 1997 trat die MAS, die Moviemento al Socialismo, erstmals zu Parlamentswahlen an. Sie holte lausige 3,9 Prozent. 2002 waren es schon 21, und 2006 holte MAS 54 Prozent der Stimmen. Der einfache Kokabauer Evo Morales wurde Präsident, der Bauernsohn David Choquehuanca Außenminister.
Aber er ist längst mehr als der Junge vom Titicacasee, der es geschafft hat, die politischen Verhältnisse umzudrehen. Erst vor zwei Jahren wurde aus Bolivien der „Plurinationale Staat Bolivien“. Das klingt nach friedlichem Miteinander. Aber es bedeutet auch, dass Choquehuanca und seine Kollegen gerade darüber nachdenken, dies als Staatsneugründung zu werten, damit sie für eine zusätzliche Legislaturperiode gewählt werden können.
Und es bedeutet, dass in diesem Vielvölkerstaat nun zweierlei Recht gilt: das bürgerliche und das indigene, traditionell überlieferte Recht. Eine Katastrophe für ein Land, das doch Gerechtigkeit für alle versprochen hat, dessen Regierung aber nun der Ansicht ist, Recht sei teilbar.
Im Spätsommer 2009 wurden in der Stadt Achacachi elf Diebe von einem indigenen Mob angezündet, zwei von ihnen starben. Die staatliche Justiz hat nur zögerlich ermittelt. Im Sommer 2010 wurden zwei Polizisten in einem Hochlanddorf gelyncht. Und in den Vierteln der Indigenen sind Puppen an die Laternenpfähle geknüpft, die Kriminellen zeigen sollen, wie man hier mit ihnen zu verfahren gedenkt. Es sind Botschaften an jene im Land, die nicht der neuen herrschenden Klasse angehören, die Intellektuellen und die Landbesitzer: Ihr könnt euch nicht mehr sicher sein, wir wenden das Recht nun so an, wie wir es brauchen. Die neuen Machthaber machen die gleichen Fehler wie ihre Vorgänger: sie diskriminieren jene, die nicht ihre politischen Ziele teilen. Hat der Junge vom Titicacasee das so gewollt?
David Choquehuanca sitzt im Außenministerium, schräg gegenüber vom Palacio Quemado, dem Präsidentenpalast. Dicke Vorhänge halten den Lärm der Stadt draußen, der Minister trägt einen gut geschnittenen Anzug aus Alpakawolle. „Wir wissen, was das Volk fühlt und möchte“, doziert er. In seinem Gesicht regt sich wenig, während er spricht. Beim Verfassungsreferendum 2009 hat jeder zweite Bolivianer gegen seine Partei gestimmt. Was also, glaubt David Choquehuanca, möchte das Volk? „Suma qamaña, das heißt in der Aymara-Sprache: gutes Leben.“ Es ist eine der wenigen Zwischenfragen der deutschen Journalistengruppe, die er zulässt.
Choquehuanca hält ein dickes Buch hoch: Hier könne jeder nachlesen, was die MAS-Regierung ideologisch zusammenhält. „Kosmo-Bio-Vision heißt unser Plan vom guten Leben im Einklang mit Pachamama. Und hier“, er nimmt ein zweites Buch zur Hand, „steht alles über den Weg dorthin. Wir befragen das Kokablatt, wie das schon unsere Ahnen getan haben. Das Kokablatt weist uns den Weg.“ Schließlich hat er noch ein drittes Buch, in dem die gesammelten Reden von Evo Morales nachzulesen sind.
Zum Abschied wünscht er den Gästen eine gute Reise nach Deutschland, 1987 sei er da gewesen – „Zürich war sehr schön“.
David Choquehuanca ist der Außenminister Boliviens, eines Staates, dessen elf Millionen Bürger auf Lösungen ihrer Probleme warten. Schwer zu sagen, was verstörender ist: seine geografische Unkenntnis oder seine politischen Ansichten.
Der Gouverneur kürzt sich selbst das Gehalt
Siebenhundert Kilometer entfernt, im Gouverneurspalast von Sucre, regiert jetzt Esteban Urquizu Cuéllar. Dass der erst 29 Jahre alte MAS-Politiker die Provinz Chuquisaca führt, ist eines dieser lateinamerikanischen Wunder, über die die Welt staunt. Im Vorzimmer in der Provinzhauptstadt mit ihren blendend weißen Kolonialbauten, warten drei Männer und eine Frau darauf, ihm ihre Anliegen zu unterbreiten. Geduldig hocken sie auf den harten Stühlen, schauen der Sekretärin beim Telefonieren zu, sie halten ihre Unterlagen fest in den Händen. Kühl und ruhig ist es, das irre Licht des Hochlands fällt schräg in die hohen Räume.
Es geht den Wartenden um Landstreitigkeiten, Medizin für ihre Kinder oder die Lebensmittelknappheit, die in den letzten Monaten drückender geworden ist. Gerade erst musste Evo Morales einen Besuch seiner Heimatstadt Oruro abbrechen, weil Bergarbeiter aus Protest gegen die Verteuerung wichtiger Lebensmittel wie Zucker, Reis und Mehl ihn ausgebuht hatten. Keine Oppositionellen waren das, sondern Indigene wie er.
Esteban Urquizu Cuéllar ist nur fünf Jahre zur Schule gegangen, einen Beruf hat er nicht gelernt. Und doch lenkt er nun die Geschicke von 650.000 Menschen, die in seiner Provinz endlich das von der MAS versprochene gute Leben wollen und ihn 2010 auf diesen Posten gewählt haben. Nach oben. „Ich hätte nie gedacht, dass das passiert“, erzählt er, „ich bin ein einfacher Bauer aus dem Hochland.“
Aber dann haben sie ihn gewählt. Die Frauen mit den langen Zöpfen und den Babys auf dem Rücken, die Männer mit den scharf geschnittenen Gesichtern – ohne Bildung, ohne Reichtum, aber mit dem Willen, nach Jahrhunderten der Demütigung einen von ihnen an die Macht zu bringen. Esteban Cuéllar ist wohl selbst etwas erschrocken, als er das Ergebnis sah: 53 Prozent für ihn, den Bauern, der gerade so lesen kann. „Das war wie eine Prüfung, vor der man sich fragt: was, wenn ich sitzenbleibe?“
Er ist entschlossen, nicht sitzenzubleiben. Ihn haben diese verdrehten bolivianischen Zeiten nach oben getragen – die Möglichkeit will er nutzen. Er hört sich jeden Tag die Sorgen der Leute an, die in seinem Vorzimmer warten und früher nicht einmal an der Security vorbeigekommen wären. Er hilft, wo er kann, verwaltet ein Budget von einer Milliarde Bolivianos, was 100 Millionen Euro entspricht, und sich selbst hat er das Gehalt gekürzt: 12.000 statt 20.000 Bolivianos. Mehr braucht er nicht, sagt er. Er will das gute Leben für seine Leute, Gerechtigkeit nach 500 Jahren Rassismus.
Aber will er diese Gerechtigkeit für alle? Die Weißen, die Mestizen, die Intellektuellen, die Unternehmer – die Nichtindigenen? Esteban Cuéllar weicht aus. Er verteidigt die Einführung der indigenen Rechtsprechung. „Das ist keine Mordjustiz“, sagt er, „indigene Justiz arbeitet viel schneller als die staatliche. Und billiger ist sie auch. In unseren Gemeinden entscheidet die Mehrheit über die Strafe – und gut.“
Seine Hände wirbeln aufgebracht das schlanke Smartphone auf der Tischplatte herum. Es ist die Wut des Deklassierten auf die einst Mächtigen, die solche wie ihn noch immer einzuschüchtern versuchen. Er hat sie so satt, die intellektuellen Gralshüter der Demokratie. Am Ende geht es doch nur darum, die Indigenen vorzuführen. Ihr Recht! Ihr Geld! Ihre Beziehungen! Das ist endgültig vorbei. Jetzt sollen Politiker wie er auch noch Schwule akzeptieren. Das überfordert Esteban Cuéllar. Dabei ist es doch einfach mit den Homos: „Das gibt es bei uns nicht, wir haben moralische Normen. Und die Gemeinde würde so etwas bestrafen.“
Der Vertreter einer Bewegung, die gegen Diskriminierung angetreten ist, hat ein Problem mit Minderheiten. Er bemerkt die Enttäuschung der Deutschen, will ihnen darüber hinweghelfen und fragt mitfühlend: „Wie geht es denn Ihrem Land so?“ Eine Journalistin antwortet: „Danke gut, wir haben einen schwulen Außenminister, einen behinderten Finanzminister und eine ostdeutsche Kanzlerin.“
Beim Abschied ignoriert er ihre ausgestreckte Hand.
Dynamit für das Erz, Koka für die Nerven
Weiter geht die Reise durch dieses Land, in dem das Oben nun unten sein soll. Hundertfünfzig Kilometer südwestwärts, immer bergauf. Auf viertausend Meter liegt die Stadt Potosí. Die 170.000-Einwohner-Stadt ist ein unwirtlicher Ort mit einem staubigen Straßenwirrwarr. Sie diente immer nur einem Zweck: dem Bergbau. Hier leben jene Bolivianer, die immer unten waren, die das gute Leben sofort wollten, das ihnen der Präsident und sein Vertrauter versprochen haben.
Fünf Jahre sind die Indigenen nun Teil der herrschenden Klasse, und doch ist ihre Lage miserabel. Längst sind die Minen, in denen nach Silber und Zinn geschürft wurde, erschöpft – frühere Machthaber waren effektiver, brutaler zu den Mineros. Heute suchen die Arbeiter auf eigene Faust nach den Schätzen im Cerro Rico, dem Berg, der die Stadt überragt. Freddy Silver nennt sich jener Mann, der Besucher in die Minen führt, den Namen hat er sich selbst gegeben.
Er muss nicht wie die anderen Mineros unter lebensgefährlichen Bedingungen der Pachamama ein paar Brocken Erz abringen. Wer Freddy Silver ein paar Bolivianos zusteckt, den führt der kleine Mann unter die Erde, hinein in die engen Stollen, in denen die Nachmittagsschicht läuft, entlang den Schienen, auf denen klapprige Loren vorbeipoltern. Durchschnittlich fünfzig Jahre werden die Mineros alt. Sie sterben an der Staublunge, am Steinschlag oder einer falsch angebrachten Sprengung. Das Dynamit dafür und den Schnaps und das Koka für die Nerven gibt es in Potosí in jedem Laden.
Hinab führt Freddy Silver, in den finsteren feuchten Stollen. Überall schlagen Männer, auch Kinder, auf den Stein ein, ihre Wangen sind ausgebeult von Kokablättern. Hier im Cerro Rico sind sie ganz unten, weit fort von Leuten wie Evo Morales, David Choquehuanca oder Esteban Cuéllar. Hier geht es nicht mehr um das gute, sondern um das gerade erträgliche Leben. „Evo?“, sagt Freddy Silver, „der hat vor zwei Monaten gesagt, er würde nach Potosí kommen. Aber er ist nicht gekommen. Besser für ihn, wir hätten ihn mit Tomaten und Dynamit empfangen.“ In der Hölle von Potosí glauben die Indigenen von Bolivien nicht mehr an Fortschritt, Gleichheit oder Kosmo-Bio-Visionen. Hier glauben sie nur noch an den Tío, den Teufel. Er ist der Herr des Stollens. Denn bis hier hinunter wirkt kein Gott – kein christlicher und kein indigener.
In einem Schrein hockt er, der Tío. Seine schmutzigrote Maske leuchtet in der Dunkelheit, die Voodoofigur ist behängt mit Girlanden, umgeben von Zigaretten, Bierdosen, Kokablättern und Schnapsflaschen. Minenarbeiter scharen sich um die Nische, sie rauchen, kauen Koka, trinken Schnaps und raunen auf Aymara Bitten: für den Tío und dass er ihnen eine gute Ausbeute schenke, für ihr Überleben im Stollen, für die Frauen und Kinder daheim. Für das, was dieses Land zusammenhält, für Erneuerung, Gerechtigkeit und ein bisschen Wohlstand, haben sie kein Gebet. Sie glauben nicht mehr daran.
■ Anja Maier, 45, ist sonntaz-Redakteurin. Ihre Bolivien-Reise wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung im Rahmen des Projekts „America Latina 200“ mitfinanziert.