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Archiv-Artikel

Linke in Polen erstaunlich stark

PRÄSIDENTSCHAFT Am 4. Juli müssen die Polen sich erneut zwischen Kaczynski und Komorowski entscheiden. Die Frage: Wer kriegt die Wähler der Linken?

„Für Polen ist die Linke unentbehrlich“, sagt der Liberalkonservative Komorowski

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

„Nun also Krieg!“, springt Fakt, Polens Revolverblatt aus dem Haus Axel Springer, die Leser am frühen Morgen an. Vielen Pendlern steckt noch die lange Wahlnacht in den Knochen. In der Warschauer Metro beugen sie sich übermüdet über das Kleingedruckte. „Krieg? Wieso Krieg?“ Am Sonntag hatte man noch ganz friedlich über den künftigen Präsidenten Polens abgestimmt und später die Prognosen und Hochrechnungen im Fernsehen verfolgt. „Es ist vorbei mit der Ruhe und Langweile“, schreibt Fakt. „Vor der zweiten Wahlrunde wird ein Krieg auf Leben und Tod ausbrechen. Es geht um jede Stimme.“

Wie erwartet gewann Bronisław Komorowski von der liberalkonservativen Bürgerplattform (41,2 %) die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in Polen. Dicht auf den Fersen folgt ihm allerdings sein große Herausforderer Jarosław Kaczyński von der nationalkonservativen Recht und Gerechtigkeit (36,7%). Mit 13,7 Prozent erzielte Grzegorz Napieralski vom Bündnis der demokratischen Linken (SLD) ein unerwartet gutes Ergebnis. Seine Wähler könnten das Zünglein an der Waage sein, wenn sich Komorowski und Kaczyński in der Stichwahl am 4. Juli erneut gegenüberstehen. Schon in der Wahlnacht warben beide um seine Gunst. Napieralskis gutes Wahlergebnis bedeute „ eine bessere Zeit für die Linken“, lobte Komorowski und setzte den für ihn erstaunlichen Satz hinzu: „Für Polen ist die Linke unentbehrlich.“ Auch Kaczyński, der vor einigen Jahren noch die SLD verbieten wollte, beglückwünschte Napieralski. Man wolle seine Initiative zu einem „Runden Tisch zur Gesundheitspolitik“ aufgreifen.

Der plötzlich so umworbene Napieralski, 37, litt bislang unter dem Ruf, ein Ziehkind und Protegé der Betonköpfe aus der alten kommunistischen Partei Polens zu sein. Jetzt sonnt er sich im Scheinwerferlicht. „Mir geht es in der Politik nicht um einträgliche Pfründen, sondern um Werte. Das habe ich im Wahlkampf gezeigt“, sagte er gestern früh im Radio. Damit reagierte Napieralski auf Spekulationen, denen zufolge er sich eine Wahlempfehlung für Komorowski teuer bezahlen lassen wolle – mit dem Posten des stellvertretenden Premierministers. Tatsächlich gab es in den letzten Monaten mehrfach Hinweise darauf, dass sich die einst so unversöhnlich gegenüberstehenden Parteien PO und SLD vorsichtig aufeinanderzubewegen. Dies liegt zum einen an der Europa-Ausrichtung beider Parteien, mit der sie sich stark von der EU-skeptischen und USA-orientierten Partei Jarosław Kaczyńskis unterscheiden. Zum anderen aber auch an der Einsicht der liberalen PO, dass es ihr an Sensibilität für soziale Fragen im Lande fehlt, die die SLD mitbringt.

Bevor er seine Empfehlung für die Stichwahl am 4. Juli abgibt, will Napieralski einige in Polen heiß diskutierte Themen auf den Tisch bringen: die In-vitro-Befruchtung, Polens Rückzug aus Afghanistan, die Grundrechte-Charta, die aufgrund eines Präsidenten-Vetos Lech Kaczyńskis bislang auf Eis liegt, das Minimaleinkommen und ein modernes Bildungssystem. „Das sind alles Punkte, die in meiner Wahlkampagne eine Rolle spielten“, sagt er mit entwaffnendem Lächeln. Das klingt nach Politik und nicht nach Krieg in Polen. Auch wenn Fakt das gern so hätte und Jarosław Kaczyński einen „harten Kampf um die Stimmen der Wähler“ ankündigte.

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