: Der verirrte Buckelwal
THERAPIE „Weiter als der Ozean“ (20.15 Uhr, ARD) erzählt einfühlsam von Kindern mit psychischen Problemen. Auch Judith, die Therapeutin, muss sich im Leben zurechtfinden
VON LEA STREISAND
Es gibt diese Filme, da passieren die ganze Zeit Sachen, die sind so blöd und peinlich und traurig und berührend, dass man immerzu denkt: „Ja! Das kenne ich! Das ist mir auch schon passiert.“ Obwohl das gar nicht stimmt. Die Autorin dieses Textes hat noch nie in einem Treppenhaus mit jemandem Schluss gemacht, während sie ihr Fahrrad die Stufen hoch trug. Aber Rosalie Thomass spielt die Kinderpsychologin Judith so exakt, so beiläufig, dass man ständig meint, einem Déjà-vu zuzugucken.
Judith ist neu in Berlin. Der Plan war eigentlich, dass sie mit ihrem Freund zusammen in die Wohnung in Kreuzberg zieht, aber der kneift im letzten Moment. Die Pfeife. Deshalb stürzt sich die hoch motivierte Berufsanfängerin in ihre Arbeit. Sie will ihren Patienten helfen. Der sechsjährige Konrad (Luis August Kurecki; er sieht nicht nur so aus, er spielt auch fast so verstörend gut wie Haley Joel „Ich sehe tote Menschen“ Osment) hat wieder angefangen, ins Bett zu pullern. Der neunjährige Linus (Claas Schröder) haut seine Mitschüler. Nele (Emma Bading) schwänzt, raucht, trinkt und ist mit ihren 13 Jahren bereits zynischer als die ausgebrannten Kollegen von Judith. Überhaupt spielen alle Schauspieler in diesem Film ihre Rollen überragend gut. Neben Thomass brillieren vor allem die Kinderdarsteller.
Ganz ohne Pathos gelingt es diesem Film, die Arbeit der Kinderpsychotherapie darzustellen. Das alltägliche Scheitern, die kleinen Triumphe sind die Themen, die Drehbuchautorin Beate Langmaack und Regisseurin Isabel Kleefeld erzählen. Man merkt dem Film die genaue Recherche an. Eine Kinderpsychologin hat das Drehbuch gegengelesen. Jede therapeutische Aktion von Judith folgt einem Plan, auch wenn sie spontan wirkt. Und natürlich haben psychische Probleme von Kindern immer mit den Eltern zu tun. Es gibt nun mal keine wichtigeren Menschen im Leben von Minderjährigen. Manchmal scheint das simpel, manchmal macht es ohnmächtig vor Wut, wenn die Eltern vorschlagen: „Es gibt doch Medikamente gegen so was.“ Die Krise wird immer am schwächsten Glied der Kette sichtbar.
Die Romantik zwischen Judith und dem Meeresbiologen Martin (bärtig, waldschratig: Robert Gwisdek) ist dabei absolut nebensächlich und in dieser Nebensächlichkeit so zart, schön und flüchtig wie ein Blick, ein Lächeln und ein Hauch von Hoffnung nur sein können.
Und dann gibt es da noch diese Leerstelle, den Buckelwal, den alle suchen und den keiner findet. Nicht mal die Kamera. „Der Wal wird von allen gesucht, warum sollen gerade wir ihn dann finden?“, sagt Regisseurin Kleefeld im Interview.
Der verirrte Wal, den es 2008 tatsächlich in der Ostsee gab, fungiert als Metapher der Des- und Neuorientierung, die aber zum Glück niemals überstrapaziert wird. Stattdessen sehen wir die schöne Judith durch das sommerliche Berlin radeln. „Berlin ist der Ozean, in dem sich Judith orientieren muss und schwimmen lernt“, sagt die Regisseurin. Es gibt diese Fernsehfilme, die alles richtig machen. Das ist so einer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen